25.07.2024, 08:02
Ein Vorbild für eine ganze Generation
Giannis Antetokounmpos Geschichte quillt vor Hindernissen beinahe über. Auch die Verhältnisse in Griechenland spielten eine Rolle. Die Qualifikation für Olympia in Paris feierte er dennoch voller Stolz, tränenüberströmt. Nun trägt er sogar die Fahne. Paradox? Nur an der Oberfläche.
Wenn Veronika Antetokounmpo einen Satz mit den Worten "Alle meine Kinder bei der Nationalmannschaft. Eines Landes, in dem ich nicht einmal eine Aufenthaltserlaubnis habe" einleitet, kommen diverse Fortsetzungsmöglichkeiten in den Sinn. Eventuell über gemischte Gefühle. Vielleicht sogar Ärger. Stattdessen: "Das ist so so großartig, so wundervoll."
Die Aussagen seiner Mutter muten auf den ersten Blick möglicherweise ähnlich paradox an wie Giannis Antetokounmpos Freudentränen nach der erfolgreichen Qualifikation Griechenlands für die Olympischen Spiele in Paris. Nicht weil das Erreichte keinen Ausdruck von Freude rechtfertigte. Vielmehr aufgrund der Geschichte der Familie. Einer Geschichte, die oberflächlich betrachtet auch Ressentiments und Groll provozieren könnte.
Geboren sind sowohl Giannis als auch seine Brüder Thanasis, Kostas und Alex in Griechenland. Als Staatsbürger anerkannt wurde über Jahre dennoch keiner. Ihre Eltern waren immigriert. Die Familie erhielt keine Aufenthaltserlaubnis. Ohne Anerkennung ihrer Qualifikationen aus Nigeria blieb Charles und Veronica der Zugang zu Jobs verwehrt, die ein besseres Leben ermöglichen. Sie machten, was möglich war. Wo immer sich ein Job auftat, ergriffen sie ihn. Vor allem, um ihren Söhnen etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen.
Was banal klingt, war täglich kompliziert. Umziehen musste die Familie immer wieder. Die Miete, sie hatten sie nicht rechtzeitig aufbringen können. Gewisse Berühmtheit erlangte die Geschichte, in der sie ihren Kühlschrank auf ein Skateboard luden, um ihn einmal quer durch das Viertel zu hieven. Zu Freunden, die ihnen Unterschlupf gewährten.
Das Viertel, Sepolia, es wurde zur Heimat. Mit all seinen Vorzügen, Hindernissen, dem Schönen und Schwierigen. Eng bebaut, platzt es beinahe vor Leben. Menschen aus aller Welt, aus Albanien, Pakistan, Bangladesch, Afghanistan oder eben Nigeria treffen sich im Schatten der Akropolis, um genau sich die Sicherheit zu erarbeiten, die in ihren Heimatländern fehlte. Auf gewisse Weise schweißte das zusammen. Man kannte sich und half, wenn möglich.
Gleichzeitig mangelte es an Fundamentalem. Nachdem die Finanzkrise 2008 Griechenland besonders hart getroffen hatte, wurden die Jobs knapp. Nicht nur für Immigranten. Der Staat stand am Rande der Pleite. Bis 2012 lebte einer von drei Griechen unterhalb der Armutsgrenze. Es folgte der übliche Reflex: Das Ansehen von Immigranten stürzte ab. Ausgrenzung nahm zu.
In einem vornehmlich "weißen" Land stachen Giannis und seine Familie heraus, was den Prozess beschleunigte "Wir waren immer Außenseiter und lebten ziemlich in Angst", sagte Giannis’ jüngster Bruder Alex einmal. "Als Immigrant bist du nichts", ergänzte Veronika Antetokounmpo an anderer Stelle.
Dafür waren sie füreinander alles. "Sie fanden immer Freude aneinander", schreibt Mirin Fader in ihrer Biographie "Giannis: The Improbable Rise of an NBA MVP". Bei allen Problemen, gemeinsam zu lachen, Sport zu machen, die Gegenwart der jeweils anderen zu genießen, gehörte zur Essenz. "Meine Eltern gaben mir alles, während wir gleichzeitig nichts hatten", erzählt Alex in "Giannis". "Hättest du mich gefragt, was ich wollte, hätte ich gesagt, dies, dies und das. Hättest du mich gefragt, was ich brauchte? Ich brauche nichts außer meiner Familie."
Nicht einmal Kevin Durants 0,3 Millimeter Fußspitze aus den 2021er Playoffs passte zwischen Veronica, Charles, Thanasis, Giannis, Kostas und Alex. Sowohl zuhause als auch unterwegs, wenn sie versuchten, durch den Verkauf von Waren wie Sonnenbrillen, Uhren und CDs Geld zu verdienen, um abends genug zu essen zu haben und die Miete zu bezahlen. Dabei ging es nicht um Profit. "Ich verkaufte, weil ich essen musste", erzählte Thanasis einmal.
Giannis selbst "verkaufte Dinge seit ich 4 war", erzählt er in einer Dokumentation bei Amazon Prime. Dabei lernte er, Menschen von sich zu überzeugen. Giannis fischte nach Sympathien, um Dinge zu verkaufen. Ein Nein akzeptierte er niemals sofort. "Wenn du alles hast, ist es schwer, dich zu motivieren. Ich hatte keine Wahl. Ich musste motiviert sein."
Dazu wuchs er immer mehr in die Rolle des älteren Bruders für Kostas und Alex hinein. Er verzichtete regelmäßig auf Essen, damit die Kleinen etwas hatten. Zudem ließ er sich in ihrer Gegenwart niemals anmerken, wie schlecht die Dinge standen. Giannis schirmte Kostas und Alex ab, so gut es ging. Auch vor reeler Gewalt.
Im Zuge der Finanzkrise hatte die "Golden Dawn"-Bewegung Zuspruch gewonnen. Vordergründig als rechtsextreme Partei aktiv, zogen ihre Mitglieder durch die Straßen, um Immigranten ausfindig zu machen, zu verprügeln, zu peinigen. Also ließ sich Giannis ein Spiel einfallen, wenn er und seine Brüder bei Dunkelheit nach Hause gingen. "Glaubt ihr, wir schaffen es in zwei Minuten nach Hause“, fragte er. "Kommt, wir joggen. Innerlich hatte ich eine Sch***-Angst". Doch es wirkte. Kostas und Alex hielten es für ein Spiel.
Ausgegrenzt. Ausgesperrt. Bei Gelegenheit verfolgt. Für so ein Land Tränen der Freude vergießen? Genau diese Fragestellung greift deutlich zu kurz. Denn vielleicht erscheint es, als wollte Griechenland Giannis und seiner Familie keine Chance geben. Am Ende sind weder Länder noch Städte oder Viertel homogene, unpersönliche Nebelschwaden, die alle in dieselbe Richtung wabern. Innerhalb kleinerer und größerer Grenzen entstehen Beziehungen, Freundschaften, Verbundenheit, offenbaren sich Chancen.
So wollte Giannis niemals Basketball spielen. Fußball war sein Sport. Entsprechend überschaubar war seine Begeisterung, als ihm Spiro Velliniatis den Basketball näher brachte. Er hatte in Giannis etwas gesehen, behauptete er später sogar, Gott habe zu ihm gesprochen.
Interesse hatte Giannis zunächst dennoch nicht. Bis Velliniatis erklärte, er könne auch Geld verdienen und vorschlug, er solle es sich einfach einen Monat anschauen. "Es" spielte sich bei Filathlitikos ab, einem Athener Basketballclub. Giannis tauchte tatsächlich auf, stach heraus, jedoch nicht immer positiv. Er begann bei Null.
Was positiv auffiel: sein Arbeitseifer. Giannis rannte, reboundete, verteidigte und wurde immer besser. Gleichzeitig war er schmächtig, wirkte trotz seines permanent laufenden Motors immer wieder ausgepowert. Er hatte schlicht nicht genug gegessen.
Als er im Training erschöpft zusammenbrach, nachdem er den ganzen Tag nichts gegessen hatte, entfaltete sich im Kleinen das Große. Teamkollegen teilten ihre Snacks mit Giannis und seinen Brüdern, brachten Extra-Bananen oder Gatorade mit zum Training. Sie gaben alte Shirts, Shorts und Schuhe weiter, brachten Geld mit, damit sich Giannis und seine Brüder etwas zu essen kaufen konnten. Einige Mütter kochten sogar für Giannis - und das, obwohl auch die anderen Familien nicht mit Geld gesegnet waren.
Zusätzlich hatte Giannis nun ein Schaufenster. Je besser er wurde, desto mehr Scouts interessierten sich für sein Spiel. Auch John Hammond, General Manager der Milwaukee Bucks. Der reiste vor dem Draft 2013 nach Griechenland, um einen dünnen, unglaublich langen Jungen aus Sepolia zu beobachten. "Ich weiß nicht genau, was mit ihm passieren wird", sagte Hammond im Anschluss, "aber sein Leben wird sich komplett verändern."
Gemeinsam mit Thanasis sollte Giannis zum Draft fliegen. Nur hatten beide keinen Pass. Eile verspürte die griechische Regierung dennoch erst, "als sie realisierte, dass Giannis nicht nur NBA-Potenzial besaß, dass sich sein Team zudem angeblich an die nigerianische Botschaft wendete, in der Hoffnung, die Staatsbürgerschaft zu erhalten", schreibt Mirin Fader in "Giannis".
Heute ist Giannis einer der berühmtesten Griechen. Ein langer Weg. Giannis’ Geschichte zu romantisieren, würde ihr dennoch nicht gerecht. Gleichzeitig kanalisierte er seine Erfahrungen, um das Bestmögliche aus ihnen zu machen. Egal wie hoch Giannis flog, er arbeitete immer weiter. Er konnte nicht anders. "Ich bin einfach ein harter Arbeiter, der versucht, zu überleben. Ich habe Angst, zurückzugehen", gab er in seiner Amazon-Doku zu“, "Angst, alles zu verlieren."
Abschütteln kann er seine Vergangenheit nicht. Möchte er auch nicht. Sie ist Teil von Giannis. Griechenland ist Teil von Giannis. Zumal er nun einer ganzen Generation als Vorbild dient. "Jeder aus Afrika schaut zu ihm auf", zitiert die New York Times Justina Chukwuma, eine nigerianische Immigrantin. "Sie wollen wie er sein. Sein Erreichtes motiviert." Das bedeutet nicht, dass wir in ein paar Jahren hunderte Giannis’ auf den Courts des Planeten sehen. Entscheidend ist die Sichtbarkeit: "Einer von uns hat es geschafft." Das gibt Energie, es überhaupt erst zu versuchen. Was auch immer am Ende dabei rauskommt.
Giannis selbst erzählt, wie Sofoklis Schortsanitis’ Anblick ihm das Gefühl gab, er könne es als schwarzer Grieche schaffen. Heute zählt er mindestens zu den fünf besten Basketballern des Planeten. Was er erlebte, spielte eine entscheidende Rolle. Ebenso und vor allem seine Familie. Das gemeinsame Lachen am selten üppig gedeckten Küchentisch. Der Zusammenhalt. Das Überwinden des scheinbar Unüberwindbaren. Dazu all die Menschen, die in Giannis, Thanasis, Alex, Kostas, Veronica und Charles Antetokounmpo mehr sahen als "nur" Immigranten.
So setzt sich Giannis’ Griechenland zusammen: ein Land, das er nun bei Olympia repräsentiert, dessen Flagge er bei der Eröffnungsfeier tragen wird. Als Sohn nigerianischer Einwanderer. Paradox ist daran bei genauer Betrachtung überhaupt nichts.
Max Marbeiter