15.01.2025, 12:06
U-18-Europameister wird immer wichtiger
Ivan Kharchenkov gilt seit Jahren als das größte Talent des FC Bayern München und ist NBA-Scouts schon lange bekannt. Der Guard brach beim deutschen Meister Rekorde und schickt sich unter Gordon Herbert an, sich endgültig in der Rotation der Münchner festzuspielen.
Mit 9,4 Punkten in rund 14 Minuten im Schnitt machte der 18-jährige Ivan Kharchenkov in den vergangenen fünf Pflichtspielen auf sich aufmerksam. Der deutsche U18-Europameister ist in seiner ersten Profisaison gerade dabei, sich in der Rotation des FC Bayern München zu etablieren. Seine jüngsten Scoring-Ausbrüche (unter anderem 20 Punkte in 24 Minuten in Frankfurt) sind dabei keine Überraschung, denn der All-Rounder gehört seit Jahren zu den größten Talenten Deutschlands.
Kharchenkov kommt aus einer Basketballer-Familie. Bruder Nikita, der rund 20 Jahre älter als Ivan ist, kam als Dreierspezialist auf sechs BBL-Saisons und beendete nach dem Aufstieg mit Essen in die drittklassige ProB erst im Sommer seine Laufbahn. Vater Alexander gewann mit der Sowjetunion bei der Weltmeisterschaft 1974 die Goldmedaille. In Deutschland spielte er für Quakenbrück und coachte Ivan selbst in der Jugendabteilung des Jahn München. Für den FC Bayern spielte Ivan Kharchenkov erstmals in der U-14, als einziger Basketballer lebte er zusammen mit den Fußballern auf dem Bayern-Campus, damit er nicht täglich von Landsberg am Lech pendeln musste. Und das zahlte sich aus, schon sehr bald stand Kharchenkov erstmals auf dem BBL-Parkett.
Am 19. November 2022 avancierte der vielseitige Flügelspieler bei seinem BBL-Debüt in Weißenfels laut Klubangaben zum jüngsten Spieler und Punktesammler der BBL-Geschichte. In seiner ersten kurzen BBL-Saison, 2022/23, zeigte der Youngster gleich sein Selbstbewusstsein. In drei BBL-Einsätzen erzielte er in insgesamt 26 Minuten 21 Punkte. Für die zweite Mannschaft in der dritten Liga legte der kräftige Flügelspieler schon mit 15 Jahren zwölf Punkte pro Spiel auf und nahm elf Feldwürfe im Schnitt.
Im Sommer 2023 führte Kharchenkov die deutsche U-18-Nationalmannschaft als sechstbester Punktesammler des Turniers (17,1 Zähler) maßgeblich zu einer EM-Bronzemedaille. In der folgenden Spielzeit 2023/24 kam er für die BBL-Mannschaft weiterhin lediglich sporadisch zum Einsatz, während der damals immer noch erst 17-Jährige im Drittligateam mit rund 23 Punkten im Schnitt zum Topscorer der gesamten Liga aufstieg. Im November 2023 deutete er beim EuroLeague-Spiel in Kaunas, einem seiner vier EL-Einsätze in jener Saison, mit vier Punkten in sieben Minuten seine Scoring-Instinkte sogar bereits auf höchstem europäischen Niveau an. Im Februar 2024 nominierte Gordon Herbert, sein jetziger Trainer in München, den Youngster sogar erstmals für den vorläufigen Herren-Kader im Zuge der EM-Qualifikation, auch wenn er den Sprung in die finale Auswahl bislang nicht vollzog.
Stattdessen trumpfte der energiereiche Scorer weiterhin für die U-18-Nationalmannschaft auf. Im Sommer 2024 wurde er als Teil des hochtalentierten deutschen Quintetts um Chris Anderson (Texas Tech/ NCAA), Jack Kayil (Mega/ Serbien), Declan Duru (Real Madrid 2) und Hannes Steinbach (Würzburg) U18-Europameister. Im Finale kratzte Kharchenkov mit 18 Punkten, zehn Rebounds und acht Assists bei nur zwei Ballverlusten an einem Triple Double. Nun setzt er wie seine damaligen Teamkollegen Kayil (Debüt für Deutschlands Herrenteam im November) und Steinbach (zuletzt 17 Punkte, 13 Rebounds und vier Assists gegen Oldenburg) auf gehobenem europäischen Profiniveau erste Duftmarken.
In Bayerns Rotation spielt Kharchenkov eine eher unbeständige Rolle. Auch durch den Ausfall von Kapitän Vladimir Lucic, der seit Oktober verletzungsbedingt fehlt, stand er bisher in 29 von 36 Pflichtspielen auf dem Feld. Im Schnitt legte er dabei laut Statistikportal RealGM 3,9 Punkte in 9,7 Minuten auf. Zumeist agierte Kharchenkov auf dem Flügel und zuletzt nach dem Abgang von Yam Madar und der Verletzung von Nick Weiler-Babb zeitweise zudem als Aufbauspieler.
Traditionell spielen Talente selten eine Rolle in der Rotation von EuroLeague-Teams. Kharchenkov, der bei Bayern noch bis 2027 unter Vertrag steht, ist mit Reals Hugo González der einzige U-20-Akteur, der relativ regelmäßig auf EuroLeague-Parkett steht. Beide (unter anderem auch Kayil) nannte der renommierte Draft-Analyst Jonathan Givony in einem ESPN-Bericht im Januar 2024 als potenzielle künftige NBA-Kandidaten. Im aktuellen ESPN-Big-Board für den NBA Draft 2025 spielt Kharchenkov keine Rolle. Es ist vorstellbar, dass seine Chancen 2026 größer sind. Diesbezüglich bleibt abzuwarten, ob seine Rolle in München kurzfristig groß genug ist oder er beispielsweise per Leihe den Weg vieler europäischer Toptalente geht, die statt in der EuroLeague auf geringerem Level mehr Minuten spielen.
Kharchenkov ist ein Allrounder, dessen Spiel nicht auf einen Aspekt limitiert werden kann. Wie Bruder Nikita ist der U18-Europameister in seinem Naturell auch jemand, der gern von jenseits der Dreierlinie abdrückt. Kürzlich bezeichnete Kharchenkov auf den Social-Media-Kanälen des FC Bayern den Step-back-Dreier nach vorheriger Wurftäuschung als seine Lieblingsaktion. Allerdings ist er auch in der Lage, mit seinem kräftigen Körper und seiner stabilen Körperkontrolle dynamisch zum Korb zu ziehen.
Das Wurfprofil des 18-Jährigen ist ein ungewöhnliches, welches es weiter zu beobachten gilt. In von RealGM 115 aufgezeichneten Spielen im Männer- und Jugendbereich nahm Kharchenkov nur knapp weniger als die Hälfte seiner Feldwürfe (46 Prozent) jenseits der Dreierlinie. Bei den letzten drei Jugendturnieren lag sein Dreieranteil jeweils über 40 Prozent, was für einen dominanten Scorer und Kreativspieler einen hohen Anteil darstellt. Immer wieder verwandelte er schwierigste Würfe.
Bewerb | Spiele | MIN | PTS | FG% | 3P% | REB | AST |
---|---|---|---|---|---|---|---|
BBL | 13 | 11,9 | 5,5 | 50,9 | 21,1 | 1,8 | 0,6 |
EuroLeague | 15 | 8,0 | 2,7 | 39,5 | 21,4 | 0,9 | 0,6 |
Kurioserweise weisen ihn seine Trefferquoten nicht als Werfer aus: In den besagten 115 Partien kam er bei insgesamt 504 Dreierversuchen auf eine überschaubare Trefferquote von 26 Prozent. Auch seine 397 Freiwurfversuche verwandelte Kharchenkov eher unterdurchschnittlich effizient (68 Prozent). Laut Statistikportal Synergy traf er darüber hinaus seit seinem Herrendebüt 2021 nur 26 Prozent seiner 83 offenen Catch-and-Shoot-Dreier. Als ungewöhnliche Entwicklung hinzu kam bislang in dieser Saison, dass Kharchenkovs Dreieranteil und seine Quoten erheblich sanken.
Begeht ein junger Spieler den Schritt auf das nächste Niveau, fungiert er zumeist zunächst vermehrt als Spezialist. Kharchenkov hingegen geht bislang den umgekehrten Weg. Anders als in seinen drei ProB-Saisons, in denen er ebenfalls konstant über 40 Prozent seiner Feldwürfe jenseits der Dreierlinie nahm, stammen in dieser Saison plötzlich nur noch 37 Prozent seiner Abschlüsse aus dem Feld von Downtown.
Auch seine Quoten ließen mit 21 Prozent Dreier- und 54 Prozent Freiwurfquote nach. Seine letzten 23 Freiwürfe traf er nur zu 30 Prozent. Dyn-Experte Bastian Doreth merkte zuletzt an, dass seine Freiwürfe regelmäßig zu kurz seien. Dies könnte auch darauf hindeuten, dass Kharchenkov aktuell das Vertrauen in seinen Wurf abgeht. Bislang kann er vielleicht klassifiziert werden als 'Rhythmus-Shooter', der schwierige Würfe treffen und bei hohem Volumen teils heißlaufen kann, aber noch keine Wurfkonstanz etablieren konnte, mit der er bei geringerem Ballbesitzanteilen genügend Vertrauen in den Wurf hat.
Kharchenkov definiert sich jedoch nicht nur über seinen Wurf, sondern bringt Führungsqualitäten und eine nicht nur für sein Alter beachtliche Physis mit. Ohne Schuhe ist der 18-Jährige, der noch leicht wachsen könnte, etwa 1,97 m groß und stattliche 103 kg schwer. Hinzu kommt eine Armspannweite von 2,06 m. Vor Kontakt scheut er an beiden Enden des Feldes nicht. Auf 100 Ballbesitze normiert rangiert das Energiebündel in der BBL laut Datendienst 3StepsBasket schon auf Platz 22 bei gezogenen Fouls. Über seine Jugend- und Profikarriere kommt er laut RealGM starke 55 Prozent seiner Zweier.
Generell, aber vor allem im Schnellangriff attackiert er regelmäßig ziemlich dynamisch und mit starker Körperbeherrschung den Korb. Im Jugendbereich agierte der Guard und Flügelspieler auch ab und an im Lowpost, wo er im Profibereich selten hantiert. Wichtig für sein Spiel ist es, dass er sich von der Freiwurflinie stabilisiert und Trips an die Linie trotz momentaner Wurfschwäche weiterhin nicht scheut.
Verbesserungsbedarf beim Zug zum Korb gibt es noch in Bezug auf seine linke Hand, die er bislang selten benutzt, sowie bei der Integration von Tempo- und Richtungswechseln. Bisher führt Kharchenkov seine Bewegungen zumeist nur in hohem Tempo aus, anstatt neben schon teils eingesetzten Spin Moves gelegentlich im Pick-and-Roll auch Verzögerungen oder Handwechsel einzubauen. Auch deshalb schleichen sich noch zu viele Ballverluste (0,6 Assists bei 1,2 Turnovers) in sein Spiel ein, gerade als er zuletzt teilweise als Point Guard fungierte. Ein grundsätzliches Bewusstsein für das Passspiel ist bei ihm verankert. Teils versucht er sich auch an spektakulären Pässen. Im nächsten Schritt sollte er daran feilen, mit mehr Erfahrung die gegnerische Verteidigung noch besser zu lesen, mit mehr Ruhe zu agieren und in der Risikoabwägung sicherer zu werden. In seinem Alter auf dem Niveau ist sein mutiges und selbstsicheres Spiel aber grundsätzlich ein sehr positiver Aspekt, der vielen Youngstern abgeht.
Eine große Qualität des Senkrechtstartes besteht darin, dass er neben seiner Scoring-Instinkte auch in der Verteidigung zumeist mit hoher Intensität und viel Leidenschaft agiert. Häufig verteidigt er einen gegnerischen Spielmacher. Das birgt für Bayern auch den Vorteil, dass er mit seiner Körperlichkeit auf BBL-Niveau beim Switchen auch gelegentlich Center übernehmen kann. Gegen Vechta gelang es ihm beispielsweise, nach einem Switch Centertalent Johann Grünloh beim Rebound aus der Zone zu halten. Aktuell wird Kharchenkov von schnelleren Guards mangels hoher Geschwindigkeit in Seitwärtsbewegungen und Mobilität bei gegnerischen Richtungswechseln häufig geschlagen. Für sein Alter und seine Erfahrung zeigt er defensiv aber schon einige bemerkenswerte Ansätze.
Zudem bringt er solide Instinkte für Steals mit. Er versucht in der Regel nicht nur, den Gegenspieler vor sich zu halten, sondern ist auch bemüht, mit seiner Hand-Augen-Koordination gleichzeitig Druck auf den Ball auszuüben. Abseits des Balles agiert Kharchenkov recht aufmerksam und physisch. Gelegentlich fehlt es ihm auch beim Herauslaufen auf die Werfer ab und an der Fähigkeit zu entschleunigen. Der 18-Jährige bringt allgemein einen starken Motor mit und feuert auch regelmäßig Mitspieler an. Defensiv geht es für ihn wie offensiv darum, in manchen Situationen einen Gang Intensität herauszunehmen und Abstände zu Gegenspielern noch beständiger einzuschätzen.
Im Hinblick auf Zukunftsperspektiven bringt Kharchenkov mit seinen Scoring-Instinkten bei gleichzeitig vorhandenen Defensiv- und Führungsqualitäten sowie einem Ehrgeiz mit gelegentlichem Hang zu Übermotivation ein vielversprechendes Gesamtpaket mit. Knüpft er an seine bisherige Entwicklung an, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er sich auch in der A-Nationalmannschaft etablieren kann.
In Bezug auf eine NBA-Perspektive bleibt die Frage, ob er bei Bayern kurzfristig - gerade auch nach der Genesung von Vladimir Lucic - konstant genug Möglichkeiten erhalten wird, um sein Spiel seinem Scoring-Naturell entsprechend weiterzuentwickeln. Spielerisch sollte für ihn im Fokus stehen, seinen Wurf quotentechnisch zu stabilisieren, mit dem Ball in seiner Hand noch etwas mehr Ent- und Beschleunigungen zu hantieren und Situationen teilweise noch mehr lesend als instinktiv zu lösen.
Schon jetzt bringt Kharchenkov aber ein unkonventionelles wie spannendes Repertoire mit, mit dem er Basketball-Deutschland künftig und auch zurzeit schon viel Spaß bereiten kann.
Lukas Feldhaus