16.01.2025, 10:56
Ein Team im Fiebertraum
Die Cleveland Cavaliers sind nach einer knappen Saisonhälfte auf Kurs für die dritte 70-Siege-Saison der NBA-Geschichte. Während die Defense schon über die vergangenen Jahre stets gut war, ist es in diesem Jahr die Offense, welche die Cavs endgültig zum echten Contender machen könnte. Dabei hält sich diese an kaum eine gängige Regel.
Im Diskurs zur aktuellen NBA halten sich einige Mythen, die gern und oft zitiert werden. Ein prominentes Beispiel: Alle Teams spielen gleich. Nach dieser Logik müsste 2024 jedes Team den Celtics nacheifern, die sich mit ihrem (nicht nur) dreierwütigen Kollektiv zum Titel und zur besten Offense der NBA-Geschichte ballerten, und das auch noch ohne zertifizierten Top-5-Spieler.
Tatsächlich trieben (und treiben) die Celtics EINE Art des Basketballs auf die Spitze, mit Shooting-, Defense- und Creation-Fähigkeiten auf allen Positionen - das Potenzial ihres Kaders schöpfen sie ansatzweise ideal aus. Ihres Kaders. Andere Teams haben andere Möglichkeiten, andere Herausforderungen, andere Wege zum Erfolg.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Team, welches Boston ablösen könnte - mindestens was die Offense betrifft - oberflächlich gesprochen einen völlig anderen Ansatz nutzt. Bei den Cavs startet mindestens ein Non-Shooter, de facto stehen oft mehrere auf dem Platz. Es ist kein halbes Jahr her, dass eine Reihe von Experten unkte, dass dieser Kader, der vergangene Saison in nahezu identischer Zusammenstellung Platz 18 beim Offensiv-Rating erreichte, wohl nie auf dem höchsten Level funktionieren würde.
Jetzt steht Cleveland nach einer halben Saison mit einem Offensiv-Rating von 123,1 auf Platz 1 - nur marginal hinter dem Celtics-Rekord vom Vorjahr (123,2), eigentlich aber sogar noch beeindruckender, weil die Differenz zum Liga-Durchschnitt (+9,4) deutlich größer ist als bei den Celtics 23/24 (+7,6). Wie kann das sein?
In gewisser Weise gelingt es den Cavs, mit ihrer Spielweise gleich mehrere Mythen zu widerlegen. Unter anderem zeigen sie, dass Spacing nicht ausschließlich durch Five-Out-Systeme oder "viel wirft viel" herzustellen ist. Auch die Cavs sorgen für Platz auf dem Court, auch sie nutzen den Dreier, aber sie gehen dabei anders vor, als es beispielsweise Boston tut.
Nur wenige Teams schaffen es so gut und regelmäßig, alle aktiven Spieler in die Offense mit einzubeziehen. Ball- und Player-Movement werden unter Kenny Atkinson groß geschrieben; es gibt wenige statische Possessions, wie es noch im vergangenen Jahr oft der Fall war. Nur sechs Teams nutzen pro Spiel weniger Isolation-Plays. Gerade im Halbfeld begeistert die Dynamik, mit der die Cavs den Ball und ihr Personal bewegen.
Spieler halten den Ball kaum. Und wer den Ball abgibt, bleibt danach in der Regel nicht stehen. Was auch daran liegt, dass die Chance stets hoch ist, dass der Ball zurückkommt - Cleveland ist unheimlich gut darin, mit blitzschnellen, sauberen Pässen die Lücken in einer rotierenden Defense zu finden oder sie noch zu vergrößern.
Wenn sie ein historisches Vorbild haben, ist es - nicht verwunderlich aufgrund Atkinsons Vergangenheit als Assistant Coach - eher Golden State als Boston. Anders als die Warriors zu besten Zeiten weigert sich Cleveland allerdings, den Ball regelmäßig ohne Not zum Gegner zu werfen; nur vier Teams leisten sich anteilig weniger Ballverluste pro Possession als die Cavs.
Interessanterweise spielen sie dabei nicht ansatzweise die meisten Pässe aller Teams - sondern laut nba.com/stats die viertwenigsten -, gefühlt aber die meisten ohne vorangegangenes Dribbling, mit dem höchsten Tempo. Ihre Zielstrebigkeit sticht heraus; nach dem initialen Drive oder Pick’n’Roll wird der Ball weiter bewegt, bis jemand einen freien Dreier oder Dunk hat.
Die Cavs machen sich immer wieder die Aggressivität der gegnerischen Defense zunutze. Zieht jemand einen zweiten Verteidiger, was gerade die Guards regelmäßig tun, wird nahezu sofort aus dieser Situation rausgepasst. Der Ball fliegt schneller, als die Defense rotieren kann, zumal die Cavs diese zusätzlich durch opportunistische Off-Ball-Cuts beschäftigt (nur Denver und Golden State kreieren pro Spiel mehr Punkte durch Cuts, niemand ist dabei so effizient (1,45 Punkte pro Play)).
Jeder Spieler im Kader scheint jederzeit zu wissen, wo sich die anderen Akteure seines Teams auf dem Court befinden - bisweilen zippt der Ball kreuz und quer, wie man es sonst eher von Videospielen kennt, bei denen ein Controller alle Spieler steuert. Die Assist-zu-Pass-Rate ist nicht aus Zufall die höchste der gesamten Liga. Die Passqualität ist höher als die Quantität.
Diese Dynamik hilft den Cavs auch dabei, einen weiteren Mythos zu widerlegen. Ihre Bigs stehen sich nicht auf den Füßen, obwohl der eine (Jarrett Allen) gar nicht von draußen wirft und der andere, Evan Mobley, trotz steigendem Volumen von draußen (immerhin 2,8 Versuche pro Spiel bei 41,6% Quote) auch deutlich lieber in Korbnähe abschließt.
Allen und Mobley sind beide willige Teile dieser Passing- und Movement-Maschine, aber auf unterschiedliche Arten. Allen ist der beste Screener des Teams, ein guter Short-Roll-Passer und ein elitärer Finisher (70,4% FG!), während Mobley viel häufiger als in der Vergangenheit selbst Aktionen initiieren darf.
Atkinson hat das schon in der Offseason angekündigt und Wort gehalten; wenn Mobley einen Defensiv-Rebound holt, pusht er selbst den Ball. Auch im Halbfeld setzt er seine Physis häufiger gewinnbringend ein und trifft starke 74% am Ring; es war kein Zufall, dass die Cavs vergangene Woche gegen OKC ihn für das spielentscheidende Play in Isolation zu Werke gehen ließen.
Die Unterschiede sind eklatant; die Mobley-Allen-Kombination erreicht in dieser Spielzeit ein gemeinsames Offensiv-Rating von 123,9, nach 112,8 im Vorjahr. "Er fängt an daran zu glauben, wie gut er ist", erklärte Atkinson kürzlich Mobleys Fortschritte gegenüber ESPN.
Der Viertjahresprofi schickt sich an, ein wirklich variabler Offensivspieler zu werden. Davon haben die Cavs einige - was dann doch wieder eine Parallele zu den Celtics darstellt. Ihre Offense ist nicht zuletzt deshalb so stark, weil sie multidimensional ist, nicht von einzelnen Aktionen oder einzelnen Spielern abhängig.
Darius Garland und Donovan Mitchell sind beide explosive Guards, die bei hohem Volumen über 40% von draußen treffen und nahezu jederzeit in die Zone penetrieren können. Sitzt einer von ihnen auf der Bank (oder hat einen schlechten Tag), sind Bankspieler wie Caris LeVert oder auch Ty Jerome sehr fähige weitere Kreativ-Optionen, die von Zeit zu Zeit Spiele closen.
Cleveland ist in der Spitze enorm tief - vier Spieler auf All-Star-Level hat sonst höchstens … Boston? -, aber auch in der Breite. Sogar auf dem Flügel; Spieler wie Dean Wade oder Max Strus haben zwar nicht die klangvollsten Namen, passen aber ebenfalls ins Schema als Spieler mit Wurf, Defense und guter, schneller Entscheidungsfindung.
Kombiniert ergibt das alles einen enorm ansehnlichen Offensiv-Basketball - was nicht zuletzt auch damit zu tun hat, dass sich das Team quotentechnisch in einem kollektiven Fiebertraum befindet. Witzigerweise befindet sich abgesehen von Sam Merrill, dem eigentlich besten puren Shooter im Team, nahezu jeder einzelne Spieler des Kaders in einem Career-Year von draußen.
40,1% seiner Dreier trifft Cleveland als Team, Bestwert in der NBA. Gerade Mobley, Isaac Okoro (43,5%) und Caris LeVert (43,8%) treffen sehr weit über Karriere-Niveau, was natürlich zu Fragen führt. Etwa: Sind die Zahlen "echt", werden sie durch den Magic Touch Atkinsons möglich - oder gleichen sich die Quoten eines Tages wieder mehr der vorher gekannten Realität an? Selbst wenn es so bleibt: Wie würden Playoff-Defensiven mit insbesondere Okoro und Mobley an der Dreierlinie umgehen, die unter Postseason-Bedingungen bisher beide um die 26% trafen?
Legitim sind diese Fragen durchaus. Gleichzeitig sind die Cavs kein Team, das sich ängstlich an diese Dreierquote klammern muss. Es ist ja nicht nur die Quote. Ihr Prozess dahinter ist exzellent - sie haben nicht nur die beste Dreierquote, sie haben aktuell auch die beste ZWEIERquote. Und die laut Cleaning the Glass drittbeste Wurfqualität. Und dann ja auch noch so etwas wie eine Geheimwaffe.
Mitchell spielt noch immer die wenigsten Minuten seiner Karriere, nimmt die zweitwenigsten Würfe. Er hält sich vornehm zurück und Cleveland fährt gut damit - weil es die Cavs vielseitiger macht und ihm mehr Pausen ermöglicht. Das sollte niemanden denken lassen, er könne keine Spiele mehr übernehmen.
Schon vergangene Saison war Mitchell in den Playoffs nicht zu halten, ehe er sich verletzte - auch nicht von den Celtics, denen er 31,7 Punkte pro Spiel einschenkte. Damals erhielt er von seinem Team wenig Unterstützung, dauerhaft fürchten mussten gegnerische Defensiven keinen seiner Mitspieler. 2025 könnte das vollkommen anders aussehen.
Gut möglich, dass Mitchell unter Druck wieder mehr in den Fokus rücken muss. Bis dahin allerdings tun die Cavs gut daran, ihre vielköpfige Hydra von Sieg zu Sieg zu reiten, Kraft zu sparen und noch mehr Selbstverständlichkeit und Selbstvertrauen zu sammeln. Für eine halbe Saison läuft‘s ja schon ziemlich gut, historisch sogar. Mythen hin oder her.
Ole Frerks