10.07.2024, 09:17
Pionierarbeit made in Germany
Ohne dabei großes Aufsehen zu erregen, reiste Kobe Bryant ab Sommer 2011 mehrere Male nach Deutschland, um sich von einem Düsseldorfer Orthopäden mit körpereigenem Blutplasma behandeln zu lassen. Während Ärzte und Sportler dafür zunächst viel Kritik einstecken mussten, gilt ein ähnliches Verfahren, an dessen Erforschung unter anderem DBB-Teamarzt Oliver Pütz beteiligt war, heute als therapeutischer Standard. Von der Pionierarbeit, die damals geleistet wurde, sagt Pütz, profitierten mittlerweile Sportler weltweit.
Dieser Artikel erschien im GOT NEXXT MAG #9 - KOBE. Dieses Magazin und auch weitere Ausgaben können im Webshop von GOT NEXXT erworben werden.
Die Zeit ist im Sport von allen der unnachgiebigste Gegner. Die Zeit ist gnadenlos, kaltherzig und unerbittlich. Die Zeit lässt nicht mit sich verhandeln, und schon gar nicht lässt sich die Zeit von irgendwem aufhalten. Mit der Zeit versteifen Gelenke unter den extremen Strapazen des professionellen Sports, der den natürlichen Prozess wie ein Katapult beschleunigt, verlieren Muskeln ihre Kraft, werden Sehnen gereizter und Bänder weniger elastisch. Der körperliche Niedergang als Folge von jahrelanger Überbeanspruchung und Verschleiß ist eine unausweichliche Tatsache.
Er ist das naturgegebene Schicksal eines jeden Sportlers, ein biologischer Fakt. Spätestens mit jedem Jahr jenseits der 30 wird er immer offensichtlicher, weil die körperlichen Möglichkeiten, die einem einmal grenzenlos vorgekommen waren, von da an immer weniger werden. Schnelligkeit. Kraft. Ausdauer. Beweglichkeit. Das alles schwindet nach und nach. Stattdessen kommen die Schmerzen. Knie. Hüfte. Wirbelsäule.
Doch was wäre, wenn man das Unumgängliche zumindest verzögern könnte, wenn es schon unmöglich ist, es zu verhindern? Was wäre, wenn man die physischen Abnutzungserscheinungen erträglicher machen könnte, indem man sie als weniger einschränkend erlebt? Was wäre, wenn man diese unzweifelhafte Zäsur in einer Sportkarriere immerhin vertagen könnte, indem man den Zenit verschiebt, und man einfach noch für eine Weile oben bleiben könnte, während es für den Rest längst bergab geht?
Das alles mögen plausible, weil verlockende und folgerichtige Motive gewesen sein, als Kobe Bryant das erste Mal in ein Flugzeug stieg, um sich in Düsseldorf von dem Orthopäden Peter Wehling behandeln zu lassen. Zeit seiner Karriere hatte es Bryant weitestgehend vermieden, öffentlich über die genauen Umstände und medizinischen Details einer Verletzung oder anhaltender Beschwerden zu sprechen, dabei war seine Profilaufbahn vor allem in ihrer zweiten Hälfte immer wieder von zum Teil langwierigen Ausfällen gezeichnet - vor allem aufgrund von strukturellen Schäden am Knie und der Achillessehne, beides links, aber auch von chronischen Problemen, wie etwa mit dem arthritischen rechten Knie.
"Kein Kommentar", lautete für gewöhnlich Bryants Antwort zu Gesundheitsfragen, weshalb man ebenfalls wenig bis nichts über die geheimnisvollen Besuche in Deutschland erfuhr und es überhaupt erst im Spätherbst 2011 die ersten Berichte darüber gegeben hatte. Es gilt deshalb als einigermaßen gesichert, dass sich Bryant im Sommer desselben Jahres von Wehling hatte behandeln lassen. Mutmaßlich waren es die ersten Termine.
Die für gewöhnlich gut unterrichtete "L.A. Times" berichtete damals von zwei Eingriffen am rechten Knie und linken Knöchel. Und so wenig man sowohl über die angewendete Methode wusste, die man in den USA als "Regenokine" bezeichnete und die der gut vernetzte Wehling unter dem Label "Orthokin" anbot, als auch über den deutschen Arzt selbst, so viel schien die Behandlung innerhalb von nur wenigen Wochen tatsächlich zur Genesung beigetragen oder die Schmerzen zumindest deutlich gelindert zu haben.
Zwar hatte Bryant im Jahr zuvor in allen 82 Spielen der regulären Saison auf dem Parkett gestanden, musste dabei jedoch auffällig oft und lange geschont werden, was seine Spielzeit auf 33,9 Minuten sinken ließ, ein Rückgang von fast fünf Minuten im Vergleich zum Vorjahr. Nur in seinen ersten beiden Jahren in der NBA hatte Bryant noch weniger gespielt, doch mit mittlerweile 32 Jahren wäre es unter normalen Umständen nicht ungewöhnlich gewesen, wenn auch er den natürlichen Lauf der Dinge allmählich hätte akzeptieren müssen. Bei Dirk Nowitzki sank die Spielzeit im selben Alter innerhalb von zwei Jahren um vier Minuten und erreichte nie wieder das alte Niveau. Ähnlich war es beispielsweise bei Dwyane Wade. Oder Kevin Garnett.
Doch anstatt dass sich seine Spielzeit nun zunächst bei irgendetwas knapp über 30 Minuten einpendelte, um in den Folgejahren kontinuierlich weiter zu sinken, spielte Bryant in der Saison 2011/12, die nach 161 Tagen Lockout erst im Dezember begann, als wäre er der verdammte Benjamin Button.
Der Minutenschnitt stieg plötzlich wieder deutlich auf 38,5 pro Spiel, der Punkteschnitt von 27,9 war der höchste seit der Saison 2007/08. Seinen Durchschnitt bei Rebounds und Blocks steigerte er ebenfalls, während die Durchschnittswerte für Assists und Steals nahezu stabil blieben. Ein Jahr später bestätigte er diesen Trend, was nicht minder erstaunlich war. So mancher Beobachter rieb sich ob der vermeintlichen Fabelzahlen, die Bryant gerade unter Berücksichtigung seiner Verletzungsvorgeschichte wieder auflegte, verwundert die Augen, weil es der gängigen Logik der umgekehrten U-Kurve widersprach, die für gewöhnlich die Produktivität eines NBA-Profis im Laufe seiner Karriere beschreibt. Steiler Anstieg. Plateau. Und dann bergab.
Es war deshalb naheliegend wie von großer Neugier getrieben, das alles in Verbindung mit den Deutschlandbesuchen zu setzen. Wehlings Behandlungsmethode hatte zudem diese Faszination des Unbekannten. Und bei aller medizinisch-physiologischen Plausibilität hatte sie auch irgendwie etwas Unerklärliches.
Es ist ein zentrales Mantra der "Mamba Mentality", das Maximum aus sich herausholen zu wollen, was einem dadurch gelingt, indem man neben eisernem Willen und einer gewissen Furchtlosigkeit ebenfalls eine Offenheit für Innovationen mitbringt und sich Alternativen nicht verschließt. Dem Neuen gegenüber unvoreingenommen zu sein, gilt dabei nicht nur für die trainingswissenschaftlichen Aspekte von Profitum oder Ernährungsphilosophien, sondern schließt auch jene Fachgebiete der Medizin mit ein, die man als "biologische Medizin" bezeichnet.
Als Kobe Bryant immer deutlicher gespürt haben musste, wie er seinen eigenen Ansprüchen körperlich zunehmend hinterherhinkte, tat er das, was seinen grundsätzlichen Überzeugungen entsprach: Er versuchte das bestmögliche Ergebnis zu erreichen - und dies ungeachtet der Tatsache, ob die Methodik einer gängigen Lehrmeinung entsprach oder als nicht ausreichend erprobt galt. Nichtsdestotrotz wäre es spannend gewesen zu erfahren, über welche Kanäle er von dem Orthokin-Verfahren gehört hatte. Möglicherweise über die Nähe von Düsseldorf zu Leverkusen, wo zu jener Zeit eine Kältekammer stand, die den Sportlern von Bayer zur Verfügung gestellt wurde und die Bryant ebenfalls zu Therapiezwecken nutzte.
Wehlings Ansatz jedenfalls beruht auf der Annahme, dass es möglich ist, Heilungsprozesse zu beschleunigen, Schmerzen zu lindern, die lokalen Abwehrmechanismen des Körpers gegen Entzündungen zu fördern und sogar die Funktion der Gelenke zu verbessern, indem man sich der Selbstheilungskräfte des menschlichen Organismus bedient. Im Fall von Orthokin werden den Patienten zunächst rund 15 Milliliter Blut entnommen, die bei leicht erhöhter Temperatur (analog zur Körpertemperatur) inkubiert werden, wodurch sich das schützende Protein Interleukin-1-Rezeptorantagonist bilden soll.
Anschließend wird das Blut in einer Zentrifuge geschleudert, wobei es sich in seine Bestandteile zerlegt. Die roten Blutkörperchen, die schwerer als andere Teilchen sind, sammeln sich in der untersten Schicht, sie sehen ein wenig wie zusammengekehrter Dreck am Boden des Reagenzgläschens aus.
Abgesehen haben es die Mediziner hingegen auf die mittlere Schicht, die eine gelbliche Farbe hat und von zähflüssiger Konsistenz ist, was an der hohen Dichte an Wirkstoffen liegt, die die natürlichen Heilungsmechanismen des Körpers beschleunigen können - wie das Eiweiß Interleukin-1-Rezeptorantagonist. Dieses wird mehrfach eingefroren und anschließend in konzentrierter Form beispielsweise in das betroffene Gelenk gespritzt, damit es auf natürliche Art und Weise sogenannte Zytokine bekämpfen soll, die ursächlich für Schmerzen und Schwellungen sind, die Belastungsfähigkeit des Gelenks einschränken und sogar den Knorpelabbau bedingen.
Und auch wenn der Mensch seit jeher versucht, die selbstverständlichen Eigenschaften von Lebewesen und Pflanzen zu kopieren - das alles klang in den Ohren vieler dann doch viel zu schön, um wahr sein zu können.
Kaum war die Geschichte also in der Welt, befeuert durch Bryants Popularität und noch einmal mehr durch den Umstand, dass selbst der ehemalige Papst Johannes Paul II. zu Wehlings Patienten gehörte, meldeten sich die Kritiker zu Wort. Erhebliche Zweifel wurden sowohl an der Wirksamkeit geschürt als auch an der Legalität der Methode.
Auch wenn Wehling den Lakers schriftlich bestätigen musste, keinerlei Substanzen in Bryants Blut zu mischen, die auf der Dopingliste standen, und es bis heute auch keine Dopingfälle im Zusammenhang mit der Methode zu geben scheint, stand die Methode lange zumindest in Verruf. Was genau Wehling dem Blut beifügte, ist nicht bekannt. Mutmaßlich war es ein Thrombozytenhemmer wie Heparin, der die Gerinnungsfähigkeit des Blutes einschränkt und auf der Liste der zulässigen Medikamente der Nationalen Anti Doping Agentur (NADA) steht.
In die Zweifel der Fachwelt mischte sich dennoch ebenso die mediale Skepsis. Als der Einsatz von Orthokin zunehmend populärer wurde, waren die Bilder des vielleicht größten Doping-Skandals in der Geschichte des Sports noch immer präsent, der im Sommer 2006 kurz vor dem Start der Tour de France mit der medienwirksamen Suspendierung von Jan Ullrich durch das Team Telekom aufgedeckt wurde. Es dauerte anschließend nicht lange, bis Bilder einer Praxis in Spanien öffentlich wurden, wo in einem Kühlschrank Dutzende Beutel eingelagert waren, in denen Blut von Spitzensportlern mit künstlich erhöhter Hämoglobinkonzentration schwamm. "Es hat Wehlings und auch unserer Arbeit mit Sicherheit nicht gutgetan, dass sie als Eigenbluttherapie bezeichnet wurde", sagt Oliver Pütz.
Spricht man mit Pütz, der seit 2009 die deutsche Basketballnationalmannschaft betreut, klingt das alles nämlich weitaus weniger reißerisch und plakativ. Während Wehling seine Orthokin-Methode entwickelte, gehörte Pütz zu einem Team von Ärzten, das in der Kölner Media-Park-Klinik ab 2008 einen ähnlichen Ansatz verfolgte. Nur ist die PRP-Methode, was für "Platelet Rich Plasma" steht und in Deutschland auch als ACP (Autologes Conditioniertes Plasma) bekannt ist, tatsächlich noch einen Schritt einfacher. "Und es ist nicht weniger effektiv", sagt Pütz, der seit 15 Jahren Sportler damit behandelt.
Beim PRP-Ansatz wird die gesamte Spritze nach der Blutentnahme zentrifugiert, um ebenfalls das konzentrierte Plasma zu gewinnen. Nur werden dem Blut keine ergänzenden Substanzen hinzugemischt, sondern das Plasma innerhalb von 20 Minuten in die zu therapierenden Regionen injiziert, wo die Thrombozyten Wachstumsfaktoren freisetzen, die es bei der Gewebeheilung braucht.
Bis 2011 stand das Verfahren auf der Beobachtungsliste der World Anti Doping Agency (WADA), dann wurde es von dieser gestrichen, weil keine leistungsfördernden Effekte nachgewiesen werden konnten. "Das war auch nie unser Ansatz", sagt Pütz. "PRP lässt Knorpel nicht neu wachsen, aber es kann verhindern, dass sich das Gewebe weiter verschlechtert, und chronische Schmerzen lindern." So könnten Sportler, die nach einer Behandlung mit Kortison oder Hyaluronsäure als austherapiert gelten, "mithilfe einer PRP-Behandlung noch über mehrere Jahre hervorragend durch eine Saison kommen". Nicht selten genüge dazu eine Behandlung im Jahr.
Als die ersten Ergebnisse zeigten, wie effektiv die Methode gerade bei der Schmerztherapie sein konnte, "dachten wir sofort, wir hätten den Gamechanger bei Muskelverletzungen schlechthin entdeckt", sagt Pütz. Doch wie so oft bei neuen Methoden habe man relativ schnell auch die Grenzen des Verfahrens kennengelernt. Weil Sportler und Therapeuten die in kürzester Zeit neu gewonnene Schmerzfreiheit mit beschleunigtem Heilungsverlauf verwechselten, waren Komplikationen und Folgeverletzungen die logische Konsequenz von falscher Belastungssteuerung.
"Man glaubt dann leicht, so eine neue Methode für alles einsetzen zu können. Aber so wie wir früher beim Einsatz von Kortison gelernt haben, dass uns irgendwann die Sehnen und vor allem die Achillessehne um die Ohren fliegen können", sagt Pütz, habe man auch beim PRP ab und an Lehrgeld zahlen müssen. Doch dass das Verfahren heute flächendeckend als erfolgversprechende Behandlung durchgeführt wird, "zeigt doch, dass sich die Pionierarbeit gelohnt hat".
Bei Kniegelenksarthrosen und chronischen Sehnenschädigungen etwa existiere mittlerweile eine hervorragende Studienlage. Und durch die eigenen Erfahrungen aus 15 Jahren Arbeit mit PRP "halte ich es noch immer für eine sehr gute Therapie, wenn man es vernünftig einsetzt und weiß, wo die Grenzen liegen. Glaubt man nämlich, die Biologie noch weiter überholen zu können, geht das meistens schief", sagt Pütz. Und am Ende seien es ohnehin die Sportler, die ein solches Verfahren populär machen, indem sie es bedenkenlos weiterempfehlen können.
Spieler wie Kobe Bryant, sagt Pütz, hätten ihnen damals den Weg bereitet, indem sie an das Verfahren geglaubt und sich darauf eingelassen hätten. "Heute gibt es auch in der deutschen Weltmeistermannschaft Spieler, die diese Therapie sehr zu schätzen wissen."
Sebastian Gehrmann