28.11.2024, 12:30
EuroCup-Sieger mischt oben mit
Als einziges Team ohne ehemaligen NBA-Spieler und ohne Leistungsträger, der bereits in der europäischen Königsklasse spielte, gingen Paris‘ Basketballer in ihre erste EuroLeague-Saison. Obendrein verließ im Sommer Erfolgscoach Tuomas Iisalo den Klub. Und dennoch: Paris rangiert nach sieben Siegen in Serie auf Platz vier. Wie passt das zusammen?
"Nach vielen Jahren habe ich so einen Basketball zum ersten Mal in der EuroLeague gesehen", sagte Panathinaikos‘ Coach Ergin Ataman auf der Pressekonferenz nach der Niederlage des EL-Champions in Paris. Er sprach von einem "unglaublichen Tempospiel" und "sehr aggressiver Defense". Der Ursprung davon liegt darin, dass Ex-NBA-Big-Man Tiago Splitter nach seiner Amtsübernahme als Cheftrainer im Sommer nicht das Spiel umkrempelte, sondern im Grundriss an dem seines Vorgängers festhielt.
Der Stil beinhaltet Tempobasketball, Fokus beim Offensiv-Rebound bei gleichzeitiger Fastbreak-Absicherung sowie aggressive Defense gegen das Pick-and-Roll und oft über das ganze Feld. Zudem setzten Iisalos Teams auf eine stark von Pick-and-Rolls und Dreiern geprägte Offensive, bei der sich die Kreation vor allem auf einen Spielmacher zentriert. Diese Grundzüge verkörpert Paris bis heute weitgehend.
In der Vorsaison dominierten die Franzosen im EuroCup in historischem Maße. 22 von 23 Partien wurden gewonnen. Die Korbdifferenz betrug 18,3 Punkte Differenz pro Spiel. Neun der bislang 13 in der EL eingesetzten Spieler sind noch Teil dieses dominanten Teams. Der neue Defensivanker Kevarrius Hayes soll zudem noch ein Wunschspieler von Iisalo gewesen sein.
Die Kontinuität geht jedoch noch weiter zurück. Sechs Spieler gewannen unter Tuomas Iisalo schon in Bonn in der Saison 2022/23 die Basketball Champions League und mit enormer Dominanz die BBL-Hauptrunde (Bilanz 32-2, später Vizemeister).
Iisalo setzte in jeder Spielphase und jeder Trainingseinheit auf maximalen Einsatz. "Manche sagen, dass man Effort [zu deutsch: Einsatz] nicht trainieren könne, aber wir trainieren Effort", sagte Tuomas Iisalo 2023 MagentaSport. Die Trainingseinheiten des heutigen Assistenztrainers der Memphis Grizzlies waren von enormer Intensität geprägt. Crailsheims Maurice Stuckey erzählte jüngst im Podcast Erstklassig zweitklassig, dass es belastend war, unter Dauerdruck zu trainieren, doch die Spiele dadurch vergleichsweise wenig intensiv waren. Schon in Testspielen dominierten Iisalos Teams oft gnadenlos. Selbst bei deutlichen Vorsprüngen gab er Spielern vom Ende der Bank kaum Minuten.
Iisalo legte schon in der Kaderzusammenstellung stets einen Fokus darauf, dass Spieler ein hohes Arbeitsethos und keine Allüren mitbringen. Ab seiner späten Crailsheimer Zeit verpflichtete er fast immer Spieler, die von einem niedrigerem Level nach oben strebten, statt ehemaliger Stars. Durch Iisalos Trainingseinheiten wurden die ohnehin schon disziplinierten Spieler noch einmal geschärft dafür, schnellstmöglich in die Defense zurückzulaufen, auszuboxen, im Kollektiv zu verteidigen und in weiteren Basisbereichen fehlerlos zu agieren. Darüber hinaus betonte Iisalo Berichten aus dem Bonner Umfeld zufolge in seiner Spielvorbereitung akribisch die gegnerische Defense. Sein Team verstand es nicht nur, schwache Verteidiger zu fordern, sondern war auf jede Verteidigungsart genauestens vorbereitet.
Diese Vorbereitung führt dazu, dass seine ehemalige Mannschaft heute selbst ohne seine Leitung fast automatisiert Lösungen auf sämtliche Verteidigungsarten findet und den Dauerdruck aufrechterhält.
Die wichtigste ausführende Kraft der Handschrift Iisalos ist Spielmacher T. J. Shorts. In seiner ersten EL-Saison gehört der 1,75-m-Mann zu den dominantesten Spielern mit 18,0 Punkten und 7,7 Assists bei nur 2,3 Ballverlusten. Für MagentaSport-Experte und Ex-Nationalspieler Per Günther ist er sogar der klare MVP des ersten Saisondrittels. Beachtlich an Shorts‘ Dominanz ist, dass Gegner auf ihn keine Antworten finden, obwohl er mit Ex-Ulmer Yago (Roter Stern Belgrad) der kleinste Spieler der Liga ist, von außen wenig Gefahr ausstrahl (30 Prozent Dreierquote, erst sechs Dreier verwandelt) und obendrein laut Datendienst Synergy in der EL bisher keinen Punkt mit seiner schwächeren rechten Hand erzielte.
Tuomas Iisalo holte das Energiebündel bereits im Sommer 2022 nach Bonn, nachdem er in Crailsheim dominierte unter Coach Sebastian Gleim, der als Nachfolger von Iisalo in Crailsheim ebenfalls im Grundriss an der Spielidee des finnischen Coaches festhielt. Als Shorts, zuvor MVP-Kandidat, in Crailsheim das letzte Saisondrittel mit einer Brustmuskelverletzung verpasste, setzte er sich neben die Coaches und gab seinen Mitspielern wie ein Trainer Anweisungen. In Bonn wurde Shorts 2023 dann BBL-MVP.
Doch dabei blieb es nicht: Auch in der Basketball Champions, im EuroCup und in der französischen Liga avancierte der US-Guard, der für Nordmazedoniens Nationalteam aufläuft, zum wertvollsten Spieler. Sein Werdegang passte in Iisalos Rekrutierungsschema. Der pfeilschnelle und spielintelligente Aufbauspieler musste sich alles hart erarbeiten. Gegenüber Sport Bild erzählte er 2023, dass er überall die Trikotnummer 0 trägt, seit ihn nach seiner Highschool-Zeit kein NCAA-Team ein Stipendium anbot und er stattdessen seine Karriere zunächst an einem Junior-College beginnen musste, bevor er nach zwei Jahren schließlich noch in der höchsten College-Liga eine Chance erhielt.
Stuckey, der in Crailsheim für Iisalo und mit Shorts spielte, sagte im Podcast Erstklassig zweitklassig: "Als Shorts zu ihm gegangen ist, habe ich T. J. geschrieben: Ey, das ist der perfekte Fit. Das war klar, dass das funktionieren wird, weil die auch vom Gedankengang her sehr ähnlich sind." Stuckey spricht zudem die Synergien an: "Er war der Trainer, der ihn dann auch nochmal aufs nächste Level gebracht hat, und ich glaube, dass er auch von T. J. sicherlich das eine oder andere lernen konnte von der Mentalität her." Nach Iisalos Abgang in die NBA ist Shorts womöglich noch mehr als Führungskraft gefordert.
Der Spielmacher beschleunigt und kontrolliert das Tempo. Regelmäßig dirigiert er seine Mitspieler. Auf jede Verteidigungsart findet er Lösungen. Hegdt der Gegner aggressiv gegen ihn im Pick-and-Roll, bringt er den Ball zum Abroller gen Freiwurflinie. Dann sind Paris‘ kollektive Automatismen noch so stark verankert, dass sofort ein Spieler aus der Ecke zum Korb schneidet und dadurch neue Freiräume entstehen. Häufig findet der Spielmacher auch den Weg zum Korb, indem er die Gegenseite des Blocks nimmt, während sich die Verteidigung bereits in Blockrichtung orientiert.
Gegen passivere Verteidigung nutzt Shorts gern seinen sicheren Mitteldistanzwurf oder Tempowechsel. Eine starke Kombo bildet er auch mit dem deutschen Nationalspieler Leon Kratzer. Der Center stellt harte Blöcke und wechselt die Blockseite gern auch im letzten Moment noch einmal, damit Shorts über die Gegenseite der Verteidigung zum Korb gelangt. Mit seiner linken Hand kann Shorts schwierigste Korbleger und Floater verwandeln. Gegenüber der Sport Bild nannte der 27-Jährige 2023 als Vorbilder Isaiah Thomas, Allen Iverson und Chris Paul. Gerade mit Paul eint Shorts neben dem Spiel in der Mitteldistanz die Eigenschaft, kaum den Ball zu verlieren. Im EuroCup produzierte er mehr als viermal so viele Assists (7,3) wie Turnovers (1,7).
Wenngleich Shorts defensiv in der Vergangenheit auch häufig wichtige Steals und Rebounds einsammelte, bleibt er mit seiner Größe von 1,75 m angreifbar. Dass Paris bislang trotzdem zu den stärksten Defensivteams gehört, liegt auch an den fast durchweg starken Verteidigern um ihn herum, allen voran Mikael Jantunen, Kevarrius Hayes oder Tyson Ward. Der auch nur 1,85 m große spektakuläre Kunstwerfer Nadir Hifi, zweitbester Punktesammler mit 12,8 Punkten in 17:31 Minuten, steht eher selten mit Shorts auf dem Parkett. In der Regel verteidigt Ward, ein weiterer Ex-Bonner, den besten gegnerischen Spielmacher. Shorts wird zumeist auf den harmlosesten Flügelspieler abgestellt. Mit seinem Einsatzwillen und seiner Schläue lässt er es selten zu, dass ihn Spieler mit über 2,00 m Länge überpowern.
Ob Shorts sein Team über 34 Spieltage an die EL-Spitze powern kann und die Relikte der Spielidee von Tuomas Iisalo konserviert werden können, bleibt abzuwarten. Bislang musste Tiago Splitter, dessen größer Verdienst das Festhalten an dem erfolgreichen Spielstil ist, keine Krisensituation managen. Eines steht aber fest: Paris ist mit dem energetischen Basketball und Shorts eine Bereicherung für die Liga.
Lukas Feldhaus