18.11.2024, 12:35
Kein Team nimmt so viele Dreier wie Boston
Die Boston Celtics treten auch in der neuen Spielzeit dominant auf, obwohl sie derzeit noch nicht ihre beste Version erreichen können. Vielen Kritikern ist ihre Spielweise dabei ein Dorn im Auge - allerdings wird sich dabei zu oft nur auf einen Teil davon fokussiert.
Es zählt zu den ungeschriebenen Gesetzen der NBA: Es wird kopiert, was erfolgreich ist, Coaches, Spieler und Teams klauen voneinander, oder sie lassen sich wenigstens inspirieren. Zu sehr, nach Ansicht mancher. "Wir schauen uns immer nur dasselbe an. Alle laufen dieselben Plays“, schimpfte Shaquille O’Neal kürzlich. Worüber sich in der Folge sogar Adam Silver ein bisschen lustig machen musste.
Als "Copycat-League" wird die NBA oft bezeichnet, und da leuchtet es ein, dass sich aktuell viele dieser kopierenden Katzen am besten Team (mindestens) der vergangenen Saison orientieren, den Boston Celtics. Kritische Stimmen werfen dem Meister gerne vor, insbesondere den Dreier ZU wichtig gemacht zu haben, und dadurch die Ästhetik des Spiels zu gefährden.
Die Zahlen scheinen das zu bestätigen: Vergangene Saison führten die Celtics die Liga in Sachen Dreier-Rate mit großem Vorsprung an (47,1%), der Liga-Durchschnitt betrug 39,5%. Dieser Wert ist 24/25 auf 42,1% gestiegen, die Liga folgt also tatsächlich. Allerdings nicht schnell genug … Boston nimmt in dieser Saison sogar 56,3% seiner Field Goal Attempts von draußen, hat sich seine Vorreiter-Rolle also bewahrt.
Natürlich ist es aber ein Irrtum, zu glauben, dass ein Team die Celtics kopieren kann, wenn es einfach nur viele Dreier nimmt.
Zunächst einmal ist "viele Dreier" bei weitem nicht die einzige Lektion, die Interessierte von den Celtics mitnehmen könnten. Die Spielphilosophie von Joe Mazzulla ist in vielerlei Hinsicht darauf bedacht, seinem Team mathematische Vorteile zu verschaffen: Etwa begeht das Team kaum Ballverluste und erlaubt kaum Freiwürfe. Defensiv wird normalerweise zudem viel dafür gearbeitet, gegnerische Abschlüsse am Ring so selten wie möglich zuzulassen, weil diese auch für Nerds immer noch wertvoller sind als alle anderen.
Und auch der Dreier ist nicht gleich der Dreier. Wie schon in der Vorsaison nimmt Boston die meisten Catch-and-Shoot-Dreier der Liga (31,3 pro Spiel) und trifft über 40% davon, was nicht zuletzt daran liegt, dass fast alle dieser Würfe von guten Schützen genommen werden und relativ offen sind.
Der vielschichtige Drive-and-Kick-Stil der Celtics mit diversen Playmakern, die schnellen Entscheidungen, die fast jeder in der Rotation treffen kann, bringt nahezu jede Defense schnell und relativ simpel ins Schwimmen, weil es in der Theorie nicht den einen, sondern bis zu fünf Brandherde auf dem Court gibt.
Die Celtics spielen im Durchschnitt relativ wenige Pässe, das liegt aber nicht am Egoismus, sondern eher daran, dass viele ihrer Ballbesitze schnell zu freien Würfen führen. Natürlich gibt es auch den anderen Weg, Boston führt die Liga auch bei den Dreiern aus dem Dribbling an (19,8 pro Spiel), trotzdem ist dieser Wurf für sie eher ein Ausweg aus brenzligen Situationen als das gewünschte Resultat. Was ihre Stärke ausmacht, ist eher das massive Volumen bei "guten", freien Würfen.
Und natürlich der Kader. In seiner besten Version hat Boston ein Team, in dem nur fähige bis elitäre Shooter spielen, die den Mazzulla-Ball mittlerweile verinnerlicht haben und ohne Nachzudenken abdrücken, wenn sich eine Chance bietet. Dieser Aspekt unterscheidet sie beispielsweise von OKC, wo in der Theorie zwar auch jeder werfen kann, sich in der Praxis aber längst nicht jeder mit einem hohen Volumen wohlfühlt.
Generell: Es gibt mehrere Teams mit fähigen Shootern auf allen Positionen, aber nirgendwo sonst diese Kombination aus Spielern, welche werfen können und wollen, welche auch dribbeln und passen können, und dann auch noch gute bis elitäre Defense spielen. Das ist, eigentlich, die wichtigste Lektion, die dieses Team lehrt - allerdings auch die, die am schwersten zu replizieren ist.
Wer es in die Playoff-Rotation der Celtics schafft, ist ein legitimer Two-Way-Player mit Distanzwurf - das haben in der Form nur sie, und das ist ihr größter Vorteil gegenüber anderen Titelkandidaten. Wobei sie diesen Vorteil aktuell selbst gar nicht wirklich haben.
Bisweilen wird das vergessen, eben weil der Kader so gut ist und die Resultate ja stimmen, aber: Bostons vermeintlicher Cheat-Code und wichtigster Big Man, Kristaps Porzingis, spielte bisher noch gar nicht (angeblich kehrt er, vielleicht, im Dezember zurück). Finals-MVP Jaylen Brown verpasste schon vier Spiele, Sam Hauser drei, Al Horford zwei.
Drei bis vier (Perimeter-)Stars schickte Boston dennoch immer auf den Court - es ist Jammern auf hohem Niveau. Die Situation führt jedoch dazu, dass Mazzulla derzeit tiefer in seine Rotation greifen muss, auch zu Spielern, bei denen der Wurf noch nicht bereit ist (etwa Jordan Walsh) oder keine Rolle spielt, wie bei Neemias Queta, der zuletzt sogar viermal starten durfte.
Oder musste. Vom Center erhofft sich Mazzulla Hilfe in einer derzeit problematischen Kategorie: Die seit Jahren exzellente Defense der Celtics lässt Federn, weil es an Ringschutz fehlt, welchen der 38-jährige Horford zu diesem Zeitpunkt seiner Karriere oder Luke Kornet in der Form nicht ausreichend geben kann.
68% der gegnerischen Abschlüsse am Ring sind drin, auch die Frequenz ist höher als in jedem Jahr seit 2019/20. Ein extremes Beispiel lieferte am Wochenende Jakob Pöltl, der 16/19 gegen die Celtics traf und mit 35 Zählern das beste Scoring-Spiel seiner Karriere hinlegte. Es geht, wie erwähnt, manchmal unter, aber Boston vermisst Porzingis durchaus.
Entsprechend sind die Celtics derzeit nicht die beste Version von sich selbst, teilweise wirken sie sogar recht weit davon entfernt, wenn sie sich gegen Teams wie Brooklyn oder Toronto abmühen, oder mit 1 Punkt gegen die Hawks verlieren, bei denen der einzige All-Star fehlt.
Das Bizarre daran ist: Sie haben trotzdem (wieder) die beste Offense der Liga-Geschichte, satte 11,4 Punkte pro 100 Ballbesitzen über Ligadurchschnitt. Ihr Net-Rating (+12,5) ist noch besser als im letzten Jahr, als sie die in dieser Hinsicht geteilte drittbeste Saison der Liga-Geschichte hinlegten.
Den Celtics fehlt noch immer der Cheat-Code namens Porzingis. Gut für sie ist aber, dass der Lette nicht der einzige ist, den sie haben. Für den Moment ist Boston der Maßstab, ob man das nun positiv bewertet oder nicht.
rar