08.10.2024, 15:30
Ex-Nr.2-Pick steht vor richtungsweisender Saison
Spektakulär war Jalen Green immer. Seine Athletik allein prädestiniert den Guard der Houston Rockets als Attraktion. Nur konnten Effizienz und Spiel zunächst nicht mithalten. Sogar Trade-Gerüchte kamen auf - bis Green gegen Saisonende plötzlich explodierte. Die nächste Hot-Streak? Es gibt Anzeichen für einen nachhaltigen Wandel…
An welchem Punkt steht das Urteil über einen Spieler? Wann diagnostiziert ein Team sich selbst, die Dinge falsch eingeschätzt zu haben? Wie so oft stünde Pauschalität an dieser Stelle wohl einer sachlichen Einschätzung im Weg. Was für den einen gilt, käme für den anderen womöglich zu früh käme. Die Chicago Bulls dürften sich noch heute fragen, weshalb sie es nicht intensiver mit Lauri Markkanen versuchten. In Golden State gibt es vielleicht Momente, in denen die Warriors die Sekunden gerne noch einmal durchleben würden, in denen sie James Wiseman LaMelo Ball vorzogen.
Gerüchtehalber gingen im Winter auch die Rockets intensiv in sich, um ihren Nr.2-Pick von 2021 zu hinterfragen. Jalen Green, so hieß es, könnte womöglich Teil eines Trades werden. Auch unter dem neuen Coach Ime Udoka hatte er noch nicht gezündet. Im Gegenteil. Anfang November stand Green bei 17,2 Punkten im Schnitt, 39,5 Prozent aus dem Feld und 31,8 Prozent 3FG.
Der Scheinwerfer auf drei reine Scoringzahlen illustriert das große Problem des Combo-Guards: Wenn der Wurf nicht fällt, Green nicht regelmäßig scort, fragten viele, wie beeinflusst er das Team dann positiv? Ausgewählt hatten die Rockets ihren Nr.2-Pick tatsächlich wegen seiner Scoring-Upside. Bereits für G-League Ignite explodierte Green regelmäßig so brachial Richtung Zone, dass gegnerisches Defenses automatisch im Chaos versanken. Am Ring sprang er danach so gewaltig ab, dass auch der längste Big ein wenig an Spud Webb erinnerte.
Green, so die Annahme, würde auch in der NBA scoren. Was er dann auch tat. Streckenweise. Denn Nächten mit 30 oder sogar 40 Punkten ließ er immer wieder Phasen mit schwachen Quoten und überschaubarer Punktausbeute folgen. Sein Einfluss auf das Team war in solchen Momenten tatsächlich wenig positiv. Fiel der Wurf nicht, fand Green kaum andere Wege, seine Athletik gewinnbringend zu nutzen. Er warf einfach weiter.
Saison | Spiele | MIN | PTS | FG% | 3P | REB | AST |
---|---|---|---|---|---|---|---|
21/22 | 67 | 31,9 | 17,3 | 42,6 | 34,2 | 3,4 | 2,6 |
22/23 | 76 | 34,2 | 22,1 | 41,6 | 33,8 | 3,7 | 3,7 |
23/24 | 82 | 31,7 | 19,6 | 42,3 | 33,2 | 5,2 | 3,5 |
Udoka setzte Green am Ende enger Spiele daher immer wieder auf die Bank. Darauf angesprochen, antwortete er: "Natürlich willst du zunächst aggressiv sein, aber du musst beides können. Ich glaube, manchmal hat er Probleme, zu lesen, was die Defense anbietet und passt trotz guter Looks oder erzwingt andere." An dieser Stelle müsse sich Green verbessern, "das Spiel lesen und nehmen, was es dir gibt."
Das Spiel lesen, die Komfortzone im selbst geschaffenen Auge des Sturms finden, um über die Defense hinwegzufegen - im Winter häuften sich Zweifel, dass Green diesen Zustand vollständiger Hochgeschwindigkeitsruhe finden würde. Immerhin war er bereits in Jahr drei. Einerseits besitzt jeder Entwicklungsprozess jedoch sein eigenes Tempo - und nur weil Green auf dem Feld schneller ist als die meisten seiner Gegenspieler, muss er sich nicht auch vom grünen (sorry) Rookie zum Superstar sprinten.
Andererseits waren da die ersten beiden Jahre. Während denen herrschte in Houston (noch ein Mal so platt, dass selbst Nikola Jokic locker drüber springen könnte) High Noon. Das junge Team durfte vieles, Green vor allem werfen. Einiges basierte auf Isolations, aus denen der Guard kreieren durfte, kreieren sollte. Udoka legt dagegen mehr Wert auf Bewegung von Ball und Spielern. Die Offense soll fließen. Dazu drehte sich Houstons Spiel vergangene Saison viel um Veteranen wie Lead-Ballhandler Fred vanVleet oder um Alperen Sengün, dessen Passing-Fähigkeiten ihn zum vielversprechenden Hub der Offense machten.
Green suchte seine Rolle. Lange wusste niemand, ob er sie finden würde. Bis zum März. Green drehte auf, die Rockets gewannen. In 15 Spielen legte er bei 49,2 Prozent FG und 40,8 Prozent 3FG 27,7 Punkte auf, sicherte sich 6,3 Rebounds und verteilte 3,9 Assists. Houston nannte zwischenzeitlich die längste aktive Winning-Streak der Liga sein eigen, gewann im März 13 seiner 15 Spiele. Beinahe hätte es sogar noch für das Play-in gereicht.
Geneigte Beobachter erkannten schnell Überschneidung zwischen dem Zeitstrahl von Sengüns Verletzung und jenem von Greens Explosion. Ohne den Center, so ein Denkansatz, hätte der Guard nun mehr Raum für seine Drives. Natürlich ging der Ball ohne echten Hub seltener nach innen. Die Rockets spielten schneller, fließender. Green kam das entgegen. Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Greens Verbesserung neben Sengün begann. Zudem würde das Minimieren auf das Fehlen eines Teamkollegen Greens Entwicklung nicht gerecht.
"Gegen Ende der Saison habe dich die Dinge Spiel für Spiel besser zusammenbekommen", sagte Green nach Ende der Spielzeit. "Ich fühle mich wir ein anderer Spieler." Tatsächlich traf Green nicht plötzlich dieselben komplizierten Würfe, die er zuvor auf den Ring gesetzt hatte. Seine Entscheidungsfindung hatte sich schlicht verbessert. Wie von Udoka gewünscht, las der Guard Defenses besser, nutzte seinen Speed immer wieder um Double Teams und Traps zu splitten, wie ein Blatt Papier durch eine minimal breite Öffnung zu gleiten, um danach eine Vielzahl an Möglichkeiten vorzufinden.
Gegen gute Rim Protection scorte Green aus der Mitteldistanz. War der Weg zum Ring frei, schloss er dort ab. Ging der Defender beim Pick and Roll unter dem Block durch, stieg Green zum Dreier hoch. Häufig kam etwas Gutes dabei heraus. Überhaupt das Pick and Roll. Initiierte Green das Play, schloss er hochprozentig ab.
Sogar das Passing entwickelte sich. Sein Speed, seine Explosivität prädestinieren Green, Defenses in Bewegung zu setzen und günstige Passsituationen zu schaffen. Im März nutzte er sie immer häufiger. Zum Edel-Playmaker mutierte Green dabei nicht, doch er fand gute Passwinkel, brachten den Ball auch bei wenig Platz zum Mitspieler, nutzte die Aufmerksamkeit der Defense, um vernachlässigtere Mitspieler zu bedienen. Beobachter verankern die Entwicklung bereits in den ersten Saisonmonaten. Während Greens persönlicher March Madness fand sie eine rasante Fortsetzung.
Am Ende setzte der Guard Udokas Idee beinahe nach Schablone um. Im ausführlichen Interviews mit The Athletic im März beschrieb sie der Coach noch einmal detailliert: "Sei aggressiv, wenn Gegenspieler unter dem Block durchgehen und sei bereit, zu werfen", sagte Udoka. "Wenn du in die Zone kommst und Gegenspieler dich in die Bigs hinein lenken, sei dir bewusst, wo deine Outlets sind, deine Drop-offs und Kickouts." Darauf achtete Houstons Coaching Staff bei Green ganz besonders. Am Ende sei das "eine seiner steilsten Lernkurven gewesen: nicht nur versuchen, selbst zu scoren, sondern die richtigen Reads machen und in Sets für alle anderen kommen."
Dass der Guard dazu deutlich engagierter verteidigte, im Eins-gegen-Eins regelmäßig den Ring beschützte, rundete das Bild ab: Der Nr.2-Pick, an dem viele während der ersten Saisonmonate noch gezweifelt hatten, spielte plötzlich reifer. Vieles sah mehr nach Entwicklung als nach der nächsten Hotstreak aus.
"Jeder lernt und passt sich mit seiner eigenen Geschwindigkeit an", sagte auch Udoka. "Er war einer, den ich wahrscheinlich am härtesten gepusht habe… einige der Dinge, die er sein gesamtes Leben getan hatte, wurden herausgefordert. Jetzt heißt es für ihn einfach: 'Das ist, wer du bist.'" Green habe seine Aufs und Abs gehabt, "aber ich liebe seine Widerstandsfähigkeit. Er hat 82 Spiele gespielt. Er hat sich durch Müdigkeit, Frustration gekämpft, sich nie beschwert, schreckte nie vor Arbeit zurück."
Es klingt optimistisch. Die Indizien legen nahe, dass Green tatsächlich Dinge zusammen gefügt hat, die vorher noch verstreut vor ihm lagen. Abwarten wollten die Rockets dennoch. Anders als seine Draft-Kollegen Cade Cunningham, Evan Mobley oder Scottie Barnes erhielt Green noch keine Maximal-Verlängerung. Offenbar möchte Houston, wie übrigens auch bei Sengün, noch abwarten. Für Green kein Problem. Am Rande des Jalen Green Basketball Camp in Houston antwortete er auf Nachfrage, er wolle "auf jeden Fall" bei den Rockets bleiben.
Jonathan Feigen vom Houston Chronicle sagte er, der Fokus liege auf seinen Mitspielern für die kommende Saison und dem Ziel Playoffs. "Wir bauen gerade diese Kameradschaft auf; wer wir sind. Das ist gerade der Hauptfokus. Der Rest wird sich ergeben." Dafür lud Green seine Mitspieler währende der Offseason zu einem Team-only-Minicamp ein.
Eine Interpretationslinie sieht daher einen reiferen Spieler, einen reiferen Teamkollegen, der kommende Saison das sportliche Maximum herausholen möchte. Im Leben wie in der NBA gilt: Nicht jede Entwicklung verläuft nach demselben Muster. Nicht jeder kommt in derselben Geschwindigkeit seinem Maximum nahe. Vielleicht hat Jalen Green langsam seinen ganz persönlichen Schlüssel gefunden.
Max Marbeiter