30.09.2024, 12:39
Oft kopiert, aber nie erreicht
Die San Antonio Spurs hätten an ihrem Trauma 2013 zerbrechen können, stattdessen perfektionierten sie mit einer simplen wie genialen Umstellung Team-Basketball. Ein Blick zurück auf das Team, das die Liga veränderte und zahllose Nachahmer fand - und in der Form trotzdem unerreichbar blieb.
Die Entstehungsgeschichte des vielleicht schönsten Basketballs, den die Welt je gesehen hat, beginnt nicht in den NBA-Finals 2013 - sie reicht weiter zurück, auf den Draft 1997 vielleicht, als die Spurs einen gewissen Big Man von den Jungferninseln an Position 1 zogen, der alles ermöglichte, was danach in der Nähe des Alamo-Flusses passierte. Vielleicht auch noch weiter; prinzipiell ist das, was dieses Team schaffte, ja auch nur die vollständige Realisierung von Ideen, die schon beinahe so alt sind wie der Sport selbst.
Ihren Höhepunkt erreicht diese Geschichte jedoch nicht ohne den Tiefpunkt, der sich 2013 ereignete. Dieser Tiefpunkt ist essenziell, weil dadurch alles, was danach passierte, noch so viel wertvoller wurde - keine Katharsis ohne Trauma. Oder, profaner ausgedrückt: Manchmal muss es erst schlimm werden, bevor es besser werden kann. Und 2013 war schlimm, richtig schlimm.
Zur Erinnerung: In Spiel 6 der Finals führten die Spurs 28 Sekunden vor Ende mit 4 Punkten und hätten die Serie an der Freiwurflinie beenden können; es vergaben jedoch erst Manu Ginobili und dann Kawhi Leonard je einen Freebie, während Ray Allen - naja, jeder weiß, was Ray Allen dann machte. Miami rettete sich in die Overtime, gewann Spiel 6 und auch ein umkämpftes siebtes Spiel. Die Spurs, diese notorisch stabile, unerschütterliche Franchise, hatte zum vermeintlichen Ende ihrer Ära hin ihr erstes echtes Trauma erlitten.
Sie hätten daran zerbrechen können - nicht zuletzt deshalb, weil Ginobili 2013 ernsthaft über einen Rücktritt nachdachte, nachdem er schwache Playoffs und ein schauriges Game 6 gespielt hatte. Stattdessen erwiesen sich die Worte, die Tim Duncan dem Argentinier noch direkt nach Game 7 mitgab, als Prophezeiung: "Es ist okay. Wir werden okay sein." Aber sowas von.
Gregg Popovich war sich nach dem Kollaps 2013 zunächst selbst nicht sicher, ob er weiter coachen wollte. Auch er konnte und musste seine Entscheidungen in Frage stellen: Vor Allens Dreier hatte er Duncan, einen der besten Rebounder der NBA-Geschichte, ausgewechselt - und dann zusehen müssen, wie sein Team partout keinen Rebound holen konnte.
"Ich habe über dieses Play jeden Tag nachgedacht, ausnahmslos, vier, fünf, sechs, zehnmal am Tag", sagte Popovich 2014 zu ESPN. "Das wird auch für immer so bleiben." Der legendäre Coach war wütend - über sich selbst, über die verpasste Chance. Nach wenigen Wochen stellte er fest, dass der Hunger durchaus noch da war, und versuchte diesen auf sein Team zu übertragen.
Seine Mittel dafür sind der Stoff von Legende; das Training Camp vor der 13/14er Saison hielten die Spurs an der Air Force Academy ab, um einen Szenenwechsel zu erleben und mit Pops eigener Militär-Vergangenheit und -Routine konfrontiert zu werden. Bereits zuvor in San Antonio zwang Pop das gesamte Team dazu, sich Game 6 und all seine Fehler noch einmal in voller Länge anzusehen.
Es ging dabei nicht darum, den Finger auf einzelne Akteure zu legen - sondern um die Erkenntnis, dass jeder seinen Anteil an der Niederlage gehabt hatte, auch Pop selbst natürlich. Die Spurs fielen gemeinsam in dieses Loch und würden es auch nur gemeinsam wieder herausschaffen, so die Botschaft. Die anstehende Saison wurde zu einer Mission, für alle.
Dazu passte, dass die Spurs nahezu den gesamten 2013er Kader zusammenhielten, der einzige signifikante Neuzugang war Scharfschütze Marco Belinelli, ansonsten wurde Spurs-typisch auf Kontinuität gesetzt sowie, Spurs-untypisch, auf kollektive Wut im Bauch. Sie alle hatten etwas gutzumachen.
Wie Basketball zu spielen war, wussten die Spurs sowieso schon - allein Duncan, Ginobili und Tony Parker hatten ja schon elf gemeinsame Jahre gespielt und drei Titel sowie Hunderte von Siegen eingefahren (Duncan hatte schon vier Ringe). Und trotzdem war das Team, das die 13/14er Saison absolvierte, ein anderes als jede Ausgabe vor ihnen.
Die Spielanteile verschoben sich ein wenig. Kawhi Leonard, der damals in sein drittes Jahr ging, rückte etwas mehr als zuvor in den Fokus der Offense, Ginobili wiederum war gesünder als in der Vorsaison und wieder mehr sein unberechenbares, wildes Selbst. Eigentlich ging es bei den Spurs aber weniger als je zuvor um individuelle Spieler, sondern vielmehr um die gemeinsame Wellenlänge.
"Point Five" war das Mantra, das Popovich seinem Team bereits an der Air Force Academy immer wieder predigte: 0,5 Sekunden, um eine Basketball-Entscheidung zu treffen. Ein Prinzip, das als Konter gegen langsamen Isolations-Basketball fungieren und das Team in den Fokus stellen sollte - und was seither von sehr vielen anderen Coaches übernommen wurde.
"Die Point-Five Mentalität haben wir wie alle anderen von den Spurs geklaut", sagte Nuggets-Coach Michael Malone 2019 mal zu thednvr.com. "Das bedeutet, du sollst den Ball nicht festhalten. Wir wollen nicht, dass Spieler halten, dribbeln, isolieren. Wenn du offen bist, wirf. Wenn du nicht offen bist, werde den Ball wieder los. Das macht dich und uns als Team viel schwerer zu verteidigen, weil der Ball sich schneller bewegen kann als die Defense."
Dieser letzte Punkt war essenziell, denn dieser Ansatz entstand nicht zuletzt als Konter gegen die aggressive Defense, mit der die Heat über die zwei Jahre zuvor zwei Meisterschaften gewinnen konnten, sowie insbesondere gegen die Über-Athletik von LeBron James. Sie sollte dem viermaligen MVP einen Teil seiner Vorteile rauben, ihn mürbe machen.
Natürlich musste bis zu einem etwaigen Wiedersehen allerdings auch erst noch eine Saison gespielt werden. Die Spurs fuhren 62 Siege ein, die meisten der Liga - mit Parker als Topscorer, der nur 16,7 Punkte pro Spiel erzielte (Platz 41 ligaweit). Neun Rotationsspieler erzielten dafür mindestens acht Punkte. Dieses Team war anders, wie gesagt.
Eine historische Dampfwalze in den Playoffs waren die Spurs indes nicht - jedenfalls nicht von Beginn an. Tatsächlich kamen sie einem Ausscheiden in Runde eins gegen die achtplatzierten Mavericks sogar ziemlich nah, die sie nach einem Vince-Carter-Buzzerbeater in ein siebtes Spiel zwangen. Es reichte jedoch am Ende, genau wie danach gegen Portland (4-1) und OKC (4-2).
Und dann kam das, was kommen musste: Das Rematch gegen Miami, auf das San Antonio ein ganzes Jahr lang gewartet hatte. Das Wiedersehen mit dem Dämon. Und dann, spätestens ab Spiel 3, der Exorzismus.
Es geriet später fast in Vergessenheit, dass die Heat auf James‘ Schultern zu Beginn der Serie sogar den Heimvorteil entführen konnten. Das liegt daran, dass es keine Rolle spielen sollte: Ab Spiel 3 brachen alle Dämme, San Antonio hatte die Heat endgültig entschlüsselt, entzaubert sogar.
Vor Spiel 3 enterte Boris Diaw anstelle von Thiago Splitter die Starting Five und bereicherte diese dadurch um einen weiteren exzellenten, kreativen Passer und Off-Ball-Spieler. Das brachte die ohnehin schon starke Spurs-Offense auf ein neues Level, das der Transzendenz sehr nahekam: "Ich habe noch nie ein Team gesehen, das so heiß lief und blieb", sagte Heat-Forward Shane Battier später zu ESPN.
Die erste Halbzeit von Spiel 3 ist ein Meisterwerk des Basketballs, das bis heute seinesgleichen sucht: Die Spurs cutteten, passten und warfen sich zu 71 Punkten (damals war das viel!) und 75,8% aus dem Feld (immer noch ein Finals-Rekord!) und machten die Heat komplett ratlos. Miami fand keinen Konter, weil es keinen gab. Das sollte sich auch danach nicht mehr ändern.
San Antonio Spurs | Miami Heat | |
---|---|---|
Spiel 1 | 110 | 95 |
Spiel 2 | 96 | 98 |
Spiel 3 | 111 | 92 |
Spiel 4 | 107 | 86 |
Spiel 5 | 104 | 87 |
Die Spiele 3-5 wurden mit 19, 21 und 17 Punkten Unterschied gewonnen - egal, was Miami versuchte, die Spurs waren gedanklich immer einen Schritt voraus. Oder einen Pass: Tracking-Daten von nba.com zufolge spielten die Spurs über die Spiele 3-5 157 Pässe mehr als die Heat - pro Spiel! Der Ball bewegte sich so schnell, dass die Defense nicht hinterherkam.
Mit einem Offensiv-Rating von 119,5 stellten die Spurs einen Finals-Rekord auf, der seither nur von den Warriors in ihrer Durant-Ära getoppt wurde - von einem Team, das sein Erfolgsrezept nicht nur ein bisschen von den Spurs "geliehen" hat. Die Serie bleibt eine der dominantesten, die in der NBA jemals gespielt wurden.
Ästhetisch gehört der Basketball dieser Finals-Spurs bis heute vielleicht sogar auf den ersten Platz. "Wenn man sich mit diesen drei Spielen vergleicht, wird man nie zufrieden sein", sagte Ginobili ein Jahr später. "Es ist unmöglich. Zu frustrierend. Ich werde das nicht tun. Denn nichts kann vergleichbar sein mit den vielleicht besten Spielen, die je gespielt wurden."
Ginobili sprach damals weise Worte. Die Finals erreichte dieses Spurs-Team nicht mehr, auch wenn ein von Kawhi geführtes Team 2016 und 2017 noch einmal Hoffnungen weckte, die Warriors schlagen zu können. Duncan hörte 2016 auf, Manu folgte zwei Jahre später, Parker gab 18/19 noch eine kuriose Abschiedsvorstellung in Charlotte, ehe auch er aufhörte.
Seine Katharsis hatte dieses Trio aber ja ohnehin bereits gefunden - 2014 war und wäre nie zu toppen gewesen, von keinem von ihnen. "Aufgrund der Umstände war es die größte Genugtuung, die ich in meiner Karriere je erlebt habe, auf jedem Level. Es ist auch nicht knapp", sagte Popovich, der bei den Spurs noch immer an der Seitenlinie steht.
Die Realität in San Antonio ist heute eine andere, ebenso wie die NBA eine andere ist, sich weiterentwickelt hat. In gewisser Weise jagt aber bis heute nahezu jedes Team diesem Ideal nach, das 2014 für einige Spiele zu sehen war. Das Problem dabei: Der Basketball ist schwer zu replizieren - und die Geschichte, die dazugehörte, die macht dieses Team für immer einzigartig.
Ole Frerks