24.05.2021, 16:05
Serbischer Center überzeugt in Denver
Nikola Jokic ist eine Ausnahmeerscheinung, das dürfte unbestritten sein. Ein Modell-Athlet ist der 2,13 m große Serbe wahrlich nicht - und dennoch ist er so etwas wie eine Basketball-Revolution.
Fast schon ein Meme geworden ist ein Foto aus Jokics Kindheit, das ihn mit deutlichem Übergewicht im Kreise seiner Familie zeigt. Seine Liebe zu ungesunder Ernährung und Coca Cola wird da sehr deutlich. Inzwischen ist diese Liebe aber erkaltet, Jokic hat seine Gewichtsprobleme in den Griff bekommen, wenngleich er noch immer weit entfernt davon ist, als Modellathlet bezeichnet werden zu können. Der 26-Jährige schleppt noch immer überflüssige Pfunde mit sich herum, ist nicht wirklich schnell, explosiv schon gar nicht - und an seiner Sprungkraft könnte er auch noch arbeiten.
Jokic ist ein Spieler, der irgendwie schon immer unterschätzt wurde - sogar in seinem Heimatland, dem basketballverrückten Serbien. Lange Zeit flog Jokic dort unter dem Radar, vielleicht auch, weil er nie für einen der Großklubs des Landes (Roter Stern oder Partizan) gespielt hat. Erst durch seine starken Auftritte in der NBA zog er mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich.
Ähnlich sieht es in den USA aus. Dort hatte man ihn zunächst auch nicht auf dem Schirm, was eine kuriose Geschichte vom Draft 2014 anschaulich zeigt: Als er in Runde zwei als Nummer 41 gepickt wurde, schaltete der übertragende Sender ESPN direkt mal in die Werbung - eigentlich ein Affront, aber letztlich ohne Bedeutung, denn inzwischen hat sich Jokic einen Namen gemacht.
Und das nur über das rein Sportliche, denn soziale Medien sind nicht das Terrain des Pferdeliebhabers, der in Serbien einen eigenen Reiterhof besitzt. Man könnte es auch so sehen: Jokic investiert seine Energie lieber in seine Pferde als in seine Social-Media-Kanäle. In der heutigen Zeit, in der die persönliche mediale Vermarktung so sehr an Bedeutung gewonnen hat, ist das sehr ungewöhnlich. Etwas, was bei LeBron James und anderen Größen dieses Sports kaum vorstellbar scheint.
Bei Jokic schon. Er macht quasi keine Eigenwerbung, hat sich aber dennoch, auch wegen seines trockenen Humors und einer guten Portion Selbstironie, eine gewisse Popularität erarbeitet. Seinen Spitznamen "Joker" trägt er deshalb nicht, vielmehr bekam er diesen einst von seinem Teamkollegen Mike Miller verpasst, der Jokic einfach nicht korrekt aussprechen konnte. Das führt dann zu einem kleinen Kuriosum: Jokic ist nach Novak Djokovic schon der zweite serbische Spitzensportler mit diesem Spitzenamen.
Mit dem "Djoker" hat Jokic noch etwas Anderes gemein: So wie Djokovic, der mit Rafael Nadal und Roger Federer das Tennis auf ein neues Niveau gehoben hat, tat dies Jokic im Basketball - und zwar auf der Center-Position: Der 26-Jährige ist zwar nicht der agilste Spieler, aber seine Antizipation ist schier unglaublich, seine Pässe sind zwar nicht magisch, aber sie wissen zu verzaubern. Immer wieder versetzt er Zuschauer in Staunen, wenn er einen Ball dort hinspielt, wo seine Mitspieler erst noch hinlaufen werden. Jokic hat den Ball nie lange in der Hand, geht selten ins Dribbling, sehr oft leitet er ihn blitzschnell weiter - meist steht dann ein Mitspieler frei vor dem Korb.
Aufgrund dieser Qualität gilt er bereits jetzt unter den Big Men als vielleicht bester Passgeber der NBA-Geschichte. Sein Name fällt sogar in einem Atemzug mit Basketballikonen wie Steve Nash, Magic Johnson oder John Stockton - die waren aber allesamt Spielmacher und keine Center. Jokic hat es mit seinen exzellenten Pässen weltweit zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, ihn macht aber noch viel mehr aus - viel mehr.
Wie schwer es ist, gegen ihn zu spielen, weiß auch Kevin Durant, der twitterte zuletzt, dass man den Serben "nicht aufhalten" könne. Und in der Tat hat das in der laufenden Saison kaum jemand geschafft. Jokic sticht in vielerlei Hinsicht heraus: In 72 Spielen der Hauptrunde brachte er es auf einen Schnitt von 26,4 Punkten, 10,8 Rebounds und 8,3 Assists - bei einer Wurfeffizienz von 60,2 Prozent. Der dreimalige All-Star ist also nicht nur ein brandgefährlicher Passgeber, sondern auch ein richtig guter Schütze - und das von überall auf dem Parkett: Seine Quoten bei Freiwürfen (86,8 Prozent), aus dem Feld (56,6 Prozent) und von der Dreierlinie (38,8 Prozent) können sich mehr als nur sehen lassen.
Jokic hat die Rolle des klassischen Centers auf ein neues Level gehoben, indem er sich ein extrem breites Spektrum an Optionen in der Offensive angeeignet hat. "Ich habe noch nie einen schwerer zu verteidigenden Spieler gesehen, du weißt nie, was er aus dem Hut zieht", brachte es Nuggets-Präsident Tim Connelly auf den Punkt. Zur Wahrheit zählt aber auch, dass Jokic defensiv durchaus Schwächen hat - und das wird ihm auch immer wieder vorgehalten. Vor allem gegen dynamische Spieler bekommt er wegen seiner fehlenden Spritzigkeit durchaus Probleme, auch gerät er gerne mal in Foultrouble.
Dennoch: Der Center der Denver Nuggets, der mit 57 Triple-Doubles bereits auf Platz neun der ewigen Bestenliste der NBA rangiert, ist der Favorit auf den MVP-Titel der NBA. Er wäre der erste Center seit Shaquille O'Neal 1999/00, dem diese Ehre zuteilwird - und der erste Spieler seiner Franchise überhaupt. Druck macht er sich deshalb aber nicht. "Ich spiele nicht Basketball, um individuelle Auszeichnungen zu erhalten", sagte er gegenüber "ESPN" und führte aus: "Um ehrlich zu sein, daran denke ich nicht. Wenn es passiert, dann passiert es, aber dafür spiele ich nicht. Ich bin glücklich, wenn wir gewinnen."
Jokics Gedanken dürften sich daher mehr um die Portland Trail Blazers als den MVP-Titel drehen, die Trail Blazers sind nämlich der Play-off-Gegner der Nuggets, die sich noch schmerzlich an das letzte Play-off-Duell mit Portland erinnern dürften. Vor zwei Jahren gab es dieses Duell schon, im Conference-Halbfinale. 2019 setzten sich die Trail Blazers in sieben Spielen durch - unter anderem gewannen sie dabei ein episches Spiel drei mit vier Verlängerungen. Ob es wieder so knapp wird? Sicher ist: In Abwesenheit des verletzten Jamal Murray (Kreuzbandriss) wird es umso mehr auf die Performance von Jokic ankommen.
Dass er abliefern kann, hat er in der Hauptrunde gezeigt: Seit der Verletzung von Murray legte das Team von Head Coach Michael Malone einen 13:5-Lauf hin, auch und insbesondere wegen Jokic. Der Serbe unterstrich, dass er ein brandgefährlicher Teamspieler ist - und genau das macht ihn so wertvoll. Ob er MVP wird, muss sich dennoch zeigen, denn sicher ist das nicht. Noch immer gibt es Experten, die Joel Embiid (Philadelphia 76ers), Giannis Antetokounmpo (Milwaukee Bucks), Chris Paul (Phoenix Suns) oder den wiedergenesenen Steph Curry (Golden State Warriors) bevorzugen würden - LeBron James (L. A. Lakers) und James Harden (Brooklyn Nets) schieden aufgrund ihrer langen Verletzungspausen frühzeitig aus dem Rennen um die Krone aus. Die Entscheidung wird wie üblich in der zweiten Juni-Hälfte bekanntgegeben - ein genaues Datum steht noch nicht fest.
drm