30.09.2020, 17:44
Verstoßen, aufgenommen, durchgestartet
Als Leitwolf des Underdogs aus Miami ruhen die Final-Hoffnungen der Heat vor allem auf Jimmy Butler. Wie seine beeindruckende Lebensgeschichte den 31-Jährigen so stark macht.
Eigentlich kann er gar nicht verlieren. Die Final-Serie gegen klar favorisierte Los Angeles Lakers freilich, aber jenseits davon dürfte Jimmy Butler schon jetzt einer der größten Gewinner sein, die je in der NBA gespielt haben. Auch wenn ihm das nicht genug sein wird.
In einem Vorort von Houston, Texas, war Butler in den Neunzigern aufgewachsen, ohne seinen Vater zu kennen - bis seine Mutter den 13-Jährigen vor die Tür setzte mit den Worten: "Ich mag einfach nicht, wie du aussiehst. Du musst gehen." Und dann war Jimmy obdachlos.
Fortan schlug Butler sich auf eigene Faust durch, während seiner Zeit in der Middle und High School hatte er das Glück, immer wieder bei unterschiedlichen Mitschülern auf der Couch schlafen zu dürfen. Immerhin die Straße blieb ihm erspart.
In dieser Zeit entschied sich der junge Football-Spieler auch, der mit seinen 13 Jahren erst 1,60 Meter maß, die Sportart zu wechseln - weil er von den größeren Mit- und Gegenspielern nicht mehr ständig über den Haufen gerannt werden wollte.
Es war der erste Schritt eines langen Weges für den Basketballspieler Jimmy Butler, der noch wachsen sollte, der aber nie zu den medial euphorisch durch die Jahre begleiteten Top-Recruits zählte.
Im dritten High-School-Jahr hatte der Flügelspieler zum ersten Mal richtig großes Glück. Bei seinem Kumpel Jordan Leslie, der später als Wide Receiver ein paar Jahre in der NFL spielte, fand Butler eine Familie, die ihn dauerhaft aufnahm - obwohl Leslies Mutter Michelle Lambert bereits sieben Kinder zu versorgen hatte.
"Sie nahmen mich in ihre Familie auf, und das hatte nichts mit Basketball zu tun. Michelle ist einfach eine sehr liebende Person. Ich konnte es nicht glauben", sagte Butler später über Lambert.
Seine "neue" Mutter unterstützte Butler auch, als er Texas zum ersten Mal verließ und in Wisconsin an der Marquette University spielte - besonders als er vor lauter Heimweh seine Zelte abbrechen wollte, sie ihn aber davon überzeugen konnte, weiter auf seine große Chance hinzuarbeiten.
In seinem Junior Year gelang Butler, der natürlich talentiert, vor allem aber einer der härtesten Arbeiter war, schließlich der Durchbruch. Hinterher meldete sich der Spätzünder zum NBA-Draft an. Als letzter Pick der ersten Runde wählten ihn die Chicago Bulls.
Butler hatte es geschafft und entwickelte sich in Chicago (2011-2017), bei den Minnesota Timberwolves (2017-2018), den Philadelphia 76ers (2018-2019) und nun bei den Miami Heat zu einem der meist respektierten Spieler der Liga.
Dass aus Jimmy "Buckets", der ursprünglich nur aufs Punkten fixiert war, einer der ultimativen Allrounder wurde, ist vor allem seinem College-Trainer Buzz Williams zuzuschreiben, dem es gelungen war, Butlers große Wut, die sein Schicksal zwangsläufig mit sich brachte, in die richtigen Bahnen zu lenken.
"Er wusste, welche Knöpfe er bei mir drücken musste, wie er mich motivieren konnte. Dafür werde ich ihn immer lieben", dankt Butler, von dem sein späterer Coach in Chicago, Tom Thibodeau, schwärmte: "Er beschwert sich nie und tut immer das, was sein Team braucht."
Wurde der 2,01-Meter-Mann bei seinen letzten Stationen von außen häufig zum schwierigen Charakter und möglichen Indikator für mangelnde Teamchemie erklärt, beweist er bei den Heat nun, dass er eine von Erik Spoelstra stark gecoachte Truppe aus ambitionierten Talenten der zweiten Reihe wie Tyler Herro, Bam Adebayo und Duncan Robinson motivieren und anführen kann.
Reife bewies Butler auch, als er nach Jahren auf seine leibliche Mutter zuging und darüber sagte: "Mir geht es gut, es ist okay. Jeder Mensch macht Fehler. Wir haben jetzt ein gutes Verhältnis."
Beispielsweise "ESPN" sagte er dagegen, was aus seiner bemerkenswerten Entwicklung nicht gemacht werden soll: "Schreibt es bitte nicht so, dass ich den Leuten leidtue, das möchte ich nicht. Es gibt nichts, was einem leidtun müsste. Ich liebe das, was mir passiert ist. Es ließ mich zu dem werden, der ich bin. Ich bin dankbar für alle Herausforderungen, denen ich begegnet bin."
Sportlich begegnet Jimmy Butler nun seiner bislang größten Herausforderung. Mit einer Kompromisslosigkeit, mit der auch die Lakers erst einmal zurechtkommen müssen.
Niklas Baumgart